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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Boden des Rechten, Ehrenhaften, und wie selig das Bewußtsein erfüllter Pflicht!

‚Aber wirst Du es ertragen, Hanne,‘ fragte sie leise, ‚daß Winchen mit ihm hierherkommt? – Sie ist seine Frau und – es geht auch nicht anders, der Leute wegen.‘

Ich lächelte unwillkürlich. ‚O Mutter – das ist todt,‘ antwortete ich. ‚Das gehört zu den Heiligthümern, die man, einmal entweiht, nicht wieder anbeten kann. Nein, nein, Winchens Anblick, oder der einer andern Frau, das ist gleichviel, aber – Hermann soll nicht hülflos sterben.‘

Ich schrieb an die Cousine, daß ihre Gegenwart für alle Verhältnisse unerläßlich sei, und bat sie, mir zu bestimmen, wann ihre und ihres Mannes Uebersiedelung in unser Haus stattfinden könne. Für die ersten dringendsten Bedürfnisse legte ich auch stillschweigend etwas Geld bei, und erwartete nun mit fast angstvoller Spannung ihren Brief. Als er eintraf, zeigte sich’s, daß Winchen noch dieselbe war, wie vor drei Jahren, liebenswürdig und kindlich gehorsam, aber ganz unselbstständig.

‚Da Du es befiehlst, Consine, so werde ich kommen,‘ schrieb sie. ‚Aber – wenn Du mir helfen wolltest, Hermann zu Euch zu bringen, das wäre so gut von Dir. Ich verstehe mich darauf nicht, und er ist so eigen geworden, man kann ihm nichts recht machen. Ach, Cousine, wie traurig ist das Alles!‘

Ich fühlte, wie mir das Blut heiß zum Herzen strömte, und daß es ein schweres Opfer sei, welches die Cousine von mir heischte. Alle Bewohner des Städtchens kannten meine Jugendgeschichte. Alle wußten, wie tief er mich damals gekränkt, und jetzt, jetzt sollte ich sein Haus betreten, der öffentlichen Meinung so ganz und gar trotzen, die Blicke der Menschen in Erstaunen und Mißfallen auf mich lenken?

Fast glaubte ich, daß es unmöglich sei, aber dann siegte doch die feste, ruhige Ueberlegung, welche mich in keiner Lage des Lebens verließ. Hermann war sterbend – das änderte Alles.

Wieder pflückte ich Resede von demselben alten Beete, wie vor drei Jahren, und einen Zweig von der Silberpappel dazu. Mein kleines Zimmer wurde frisch gescheuert; die Vorhänge wurden weißgewaschen und Blumen auf den Tisch gestellt – er sollte sich angeheimelt fühlen von dem ersten Eindrucke. Und wunderbar genug – ich war glücklich an diesem Tage. Ein Etwas von dem bräutlichen Gefühle der Jugend kam noch einmal zu mir zurück, aber reiner, verklärter durch die Wunschlosigkeit und den Abschluß aller irdischen Hoffnungen, angesichts des offenen Grabes. Er würde sterben unter meiner Pflege, dachte ich, die Schatten zwischen Seele und Seele würden sich lichten, bevor er von mir ging, und dann war ich versöhnt mit Dem, der meines ganzen Denkens Mittelpunkt gewesen von jeher.

Wieder wehte der Sommerwind den Blumenduft in’s Fenster hinein; wieder war’s im Juli, und, das Herz voll stillen Friedens, ging ich durch die Stadt, um Hermann zurückzuholen in unser Haus, anders, ach so ganz anders, als ich vor drei Jahren hoffte, aber doch nicht trostlos, nicht verzweifelt. Ich hatte mich hindurchgerungen und das bessere Selbst mir erhalten. Jetzt erst fühlte ich den Segen des Kampfes, der damals meine Seele zerriß. Aber dennoch kostete es mir Ueberwindung, das Haus zu betreten, in welchem Hermann wohnte. Ich ging durch den leeren Laden, dessen Inhalt in öffentlicher Auction verkauft worden war, und durch das Wohnzimmer, aber nirgends fand sich ein Einrichtungsstück, Alles war öde und leer.

Meine Thränen flossen unaufhaltsam, als ich jetzt an eine dritte Thür klopfte. Ich wollte keinen Augenblick verlieren, den Unglücklichen aus dieser trostlosen Umgebung fortzubringen, hin in mein sauberes sonnenhelles Zimmerchen, wo die Blumen blühten und die Nachtigallen sangen. Kein Zaudern – ich durfte an mich nicht denken. Beim leisen Geräusche meiner Hand regte sich drinnen im Zimmer ein Frauenkleid, und die Thür wurde zögernd geöffnet. Winchen stand auf der Schwelle, noch so schüchtern, so kindlich bittend wie damals. In ihren großen braunen Augen glänzten Thränen. ‚Cousine – Du bist so gut,‘ flüsterte sie.

Ich sah an ihr vorüber; ich weiß nicht, was ich dachte und fühlte, aber das Herzklopfen raubte mir beinahe den Athem. ‚Schnell, Winchen!‘ sagte ich, mit äußerster Anstrengung sprechend, ‚der Wagen wartet. Wo ist Hermann?‘

‚Hanne!‘ rief leise, hinter der Thür, die noch offen stand, eine schwache, kaum vernehmbare Stimme, ‚Hanne, Du kommst selbst?‘

Und nun hatte ich mich wiedergefunden; nun wußte ich, daß mein Gesicht keine Aufregung zeigen durfte. So ruhig, als sei nichts geschehen, ging ich Hermann entgegen.

Er saß in einem Lehnstuhl, dem einzigen, der vorhanden war – und bot mir wortlos die Hand. Hätte ich noch Zweifel gehegt, so müßte sein Anblick dieselben vernichtet haben; er glich in keiner Weise mehr dem Bilde früherer Tage, sondern trug den Stempel des nahen Todes unverkennbar auf allen Zügen. Nur die Augen erkannte ich – Hermann’s blaue gute Augen – sonst war Alles trostlos verändert. Winchen wandte sich ab, als er mir stumm, wie bittend, die Hand reichte. Ihre frischen Wangen waren aschbleich geworden unter dem Eindruck dieses Wiedersehens.

‚Wie geht Dir’s, Hermann?’ fragte ich endlich, unter der inhaltlosen Phrase die Qual des Augenblickes vergessend. ‚Du mußt Dich aufraffen, alles Schlimme vergessen, und frischen Muth schöpfen. Komm’, wir wollen von hier fort. Die Mutter erwartet uns; es wird noch Alles gut werden.‘

Er klammerte sich fest an meine Hand und schüttelte dann leise den Kopf. ‚Sag’ das nicht, Hanne! Du selbst glaubst es nicht, und mir wäre es eine trübe Botschaft. Aber – Gott segne Dich, Hanne! Hanne, Gott segne Dich!‘

Und nun konnte ich es nicht verhindern, trotz aller Mühe, daß doch die verrätherischen Thränen wieder über meine Wangen herabrollten. Aber ich schüttelte sie fort – ich wollte stark sein um jeden Preis.

‚Komm’, Winchen,‘ wiederholte ich, ‚wo ist Hermann’s Winterrock? Wir müssen eilen, weil der Kutscher wartet. Packe Alles zusammen, was mitgenommen werden soll!‘

Hermann und sie sahen einander an. Endlich antwortete er mir. ‚Wir haben gar nichts behalten, Hanne, selbst das Wenige, was Du hier siehst, gehört fremden barmherzigen Menschen. Was man uns gelassen, das mußte aus Noth verkauft werden.‘

Ich erschrak nicht, obwohl sich Hermann’s todtblasses Gesicht momentan mit Purpur überzog, als er die demüthigenden Einzelheiten berichtete. ‚Nun wohl,‘ rief ich hastig, ‚so geht die Sache desto leichter! Nimm mein Tuch, Hermann! Es ist schwarz und thut Dir Noth, weil Du lange nicht hinausgekommen bist. So, wir legen es viereckig, dann wundert sich Niemand.‘

Seine Hand glitt leise an dem fadenscheinigen Gewebe herab. ‚Dein Tuch,‘ flüsterte er, kaum hörbar, ‚Dein Tuch! Du hattest es schon als Kind, Hanne.‘

Und dann verhüllte er die Augen, erschüttert bis in’s tiefste Herz hinein. Ein krampfhafter Hustenanfall ergriff ihn, so daß er sich an meinem Arm festhalten mußte, um eine Stütze zu finden. Das Ende mußte sehr nahe sein, da alle Kräfte erschöpft schienen.

Winchen sah zum Fenster hinaus; ich legte meine Hand auf Hermann’s Stirn, um ihm Erleichterung zu gewähren. Erst lange nachher fiel mir ein, daß ich, ohne selbst daran zu denken und wie unwillkürlich, ihren Platz mir angemaßt, als müsse das so sein.

Nachdem sich der Anfall gelegt, brachten wir mit Hülfe des Kutschers den Kranken hinunter in den harrenden Wagen, und kaum eine halbe Stunde später lag er, gut gebettet, in meinem sauberen, blumendurchdufteten Zimmer. Winchen hätte jetzt einen Theil der Pflege oder doch einen Theil meiner täglichen Verpflichtungen übernehmen müssen, weil die Sorgen für mich so bedeutend vergrößert worden waren, aber daran dachte sie nicht, und als ich’s ihr zögernd sagte, da zeigte sich, daß sie in den drei Jahren des Kummers nichts gelernt und nichts vergessen hatte. Winchen war unfähig, mir meine Pflichten zu erleichtern, und so kam es, daß sehr bald die alte Mutter am Krankenbett saß, während ich unterrichtete, und daß die Cousine dann las oder müßig im Garten umherschlenderte, zuweilen sogar mit einem großen, besonders gelehrigen Pudel der Nachbarin ganz vergnügt spielte.

Hermann vermißte sie nicht, und wir Beide zeigten dem sterbenden Manne niemals eine verdrießliche Miene; er erfuhr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_340.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)