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Briefverkehre mit Recht die Eigenschaft eines Culturwerthmessers beizulegen, und man wird bei den Schlüssen, welche sich aus den Briefziffern für den Kopf der Bevölkerung auf den Bildungszustand und die Culturhöhe einer Nation ziehen lassen, der Wahrheit sehr nahe kommen. Werfen wir hier einen kurzen Rückblick auf das Alterthum, so treten nur einzelne blendende Punkte hervor, auf denen hohe Culturentwickelung reifte, während auf den Umgebungen dunkle Nacht ruhen blieb. Selbst die Aegypter, deren Schreibseligkeit und Schreibgewandtheit aus zahlreichen Ueberlieferungen „hockender Schreiber“ auf ihren Monumenten hervorgeht, dürften kaum eine Briefzahl von 1,07 Briefen für den Kopf, die den Verkehr des heutigen Griechenlands für einen Bewohner jährlich darstellt, aufzuweisen haben; in Assur und Babylon hinderte schon der Charakter der Keilschrift die Entfaltung des Briefverkehrs, der sich noch bei den Persern, die ihre Courierpost wohl von China entlehnten, ausschließlich auf Zwecke der Staatsverwaltung beschränkte. In dem hochgebildeten Hellas war, abgesehen von dem lebhaften brieflichen Verkehre Athens mit seinen Colonien und Pflanzstädten, namentlich in Kleinasien, der schriftliche Gedankenaustausch wenig in Gebrauch; die meisten Nachrichten wurden durch mündliche Botschaften verbreitet, zu deren Ueberbringung schnellfüßige Tagesläufer, Hemerodromen, benutzt wurden. Die Namen der Sieger bei den olympischen und isthmischen Spielen ließ man durch Tauben, welche nach der Heimath zurückflogen, den harrenden Genossen melden. Das alte Rom, welches seine Verträge mit Gabii und Karthago mit eisernen Griffeln auf Ochsenhäute einprägen ließ, wußte nichts vom Briefverkehr, da Sclaven die nöthigen Botendienste ausführten; erst in der späteren Zeit der Republik findet man den Briefwechsel mit Täfelchen in Form von Diptychen (doppelten Tafeln) mehr ausgebreitet. Bekannt sind Cäsar’s Berichte aus dem Felde an den römischen Senat, eine Art antiker Feldpostbriefe, aus denen später die Tageszeitungen (acta diurna) entstanden; daneben war in dieser Zeit auch der private Briefwechsel sehr in Mode; der schreibselige Cicero sandte seinen Freunden von Tusculum, Horaz von Tibur und Lucull von Bajä zahlreiche Briefe, und bei Rangerhöhungen wurde ein glücklicher neugebackener Consul oder Prätor mit Visiten-Diptychen geradezu überschüttet. Der feinsinnige Martial gedenkt in seinen Epigrammen schon der Briefkärtchen (chartae epistolares) und rühmt ihre Erfolge in dem Distichon:

… „ob flücht’gen Bekannten, ob theuren Freunden gesendet,
Alle zu freundlichem Mahl ruft mir das Kärtchen herbei.“

Selbst hierin zeigte sich der Luxus des entarteten Roms; denn man führte schließlich sogar Diptychen von Elfenbein ein. Immer aber waren es nur die vornehmen oder die gelehrten Kreise, welche correspondirten, und es änderte sich hierin auch zur Zeit des Augustus, welcher die römische Staatscourierpost schuf, und Hadrian’s, der sie vervollkommnete, wenig. In dem Wirrwarr der Völkerwanderung gingen diese Culturkeime wieder unter, und es war, abgesehen von Karl’s des Großen Einrichtungen für den Botendienst, von einem Briefverkehre im heutigen Sinne im frühen Mittelalter keine Spur. Erst die oberitalischen und die südwestdeutschen Städtebündnisse, sowie die im dreizehnten Jahrhundert sich mehr und mehr ausbreitenden Handelsverbindungen der nordischen Hansa gaben den Anlaß, Botenverbindungen mit regelmäßiger Briefbeförderung herzustellen, welche als die Vorläufer und Anfänge der modernen, von Ludwig dem Elften von Frankreich und Roger von Taxis begründeten Posteinrichtungen anzusehen sind.

Kehren wir nach diesem flüchtigen Rückblick auf die Entwickelung der Post zu den Uebersichten zurück, von denen unsere Betrachtung ausging, so lassen sich in der Mosaik dieser statistischen Resultate zwei Gruppen klar erkennen, von welchen die Eine den Vergleich zwischen dem Briefverkehr der einzelnen Staaten ermöglicht – also das internationale Gebiet umfaßt –, die Andere aber einen tieferen Einblick in die werkthätige Arbeit des deutschen Volkes gestattet – die nationale Gruppe. Erstere bietet insofern hohes Interesse, als sie einen Maßstab für die Beurtheilung der Entwickelung einzelner Völker abgiebt und zugleich beleuchtet, auf welchem Gebiete jene Völker den anderen voranstehen. Diese Gruppe wird von Großbritannien eingeleitet, das als Chorführer mit 28,47 Briefen auf den Kopf der Bevölkerung erscheint und in dieser bedeutenden Ziffer die gewaltige Entfaltung seines Handels, seiner maritimen Größe und seiner riesigen Industrie erkennen läßt. Den größten Antheil an der kolossalen, aus 1,161.000,000 sich beziffernden Briefzahl Großbritanniens hat die City von London, der die großen Handelsplätze Liverpool, Birmingham, Dublin, Manchester sich anreihen. Sodann folgt die kleine Schweiz, welche mit 20,32 Briefen pro Kopf (absolut 119 Millionen Briefe) einen Rang einnimmt, den sie neben der gewerblichen Blüthe ihres Landes vorwiegend auch dem hochentwickelten geistigen Leben ihrer Universitäten, sowie dem fortdauernden Zusammenströmen der Massen von Fremden auf ihrem gastlichen Boden verdankt. Die dritte Stelle behaupten die Vereinigten Staaten von Amerika mit 17,5 Briefen; entsprechend ihrem rastlosen Unternehmungsgeiste haben die Amerikaner Eisenbahnen und Postanstalten in die Wüste gesetzt und diese dadurch wunderbar schnell zu Culturstätten umgewandelt; die riesenhaften Entfernungen fordern bei der im Vergleich zur Meilenzahl der Beförderungsstrecke fabelhaften Billigkeit des Portos zu lebhaftem Briefwechsel auf, so daß trotz der mächtigen, in ihrer Einsamkeit grandiosen Prairien des Westens Nordamerika in seiner Gesammtheit den Briefverkehr mancher Culturländer Europas in Schatten stellt. In überraschender Entwickelung befindet sich neben den östlichen Centralpunkten des Handels namentlich auch Californien mit der Zauberstadt San Francisco, der Königin des Pacific, dem Vorhafen Chinas und Japans mit seinem Mastenwald und den lieblichen Ausblicken auf den unermeßlichen Ocean; freilich wird die Entwickelung der amerikanischen Post, welche seit 1799 von einer Million Briefe auf 677½ Millionen Briefe gestiegen ist, mit einem jährlichen Postdeficit von acht bis neun Millionen Dollars erkauft. An Amerikas Seite stellt sich als vierter Staat Deutschland, und zwar das Gebiet der Reichspost mit 14,7, Württemberg mit 12,40 (in 1873), Baiern mil 10,47 Briefen auf den Kopf; dann schließen sich die Niederlande mit 11,84, Belgien mit 10,34, Oesterreich mit 9,83, Dänemark mit 8,22 und Luxemburg mit 7,38 Briefen an. Die rein romanischen Völker haben mit den germanischen Stämmen auf diesem Gebiete nicht gleichen Schritt zu halten vermocht. Frankreich weist 9, Spanien und Portugal 4,42. Italien 3,84, Griechenland 1,07. Rumänien 0,69 Briefe für den Kopf auf, – ein Verhältniß, welches grelle Streiflichter auf die Volksbildung der romanischen Nationen und die in dieser Hinsicht maßgebenden Einflüsse des Clerus wirft.

Frankreichs Briefverkehr (655 Millionen jährlich) wird durch unverhältnismäßig hohe Brieftaxen niedergehalten; die fiscalische Ausbeutung der Post für Finanzzwecke steht in diesem Lande augenblicklich mehr als irgendwo in Blüthe. Selbst Rußland, das freilich bei der Ausdehnung seiner Steppen und Tundren nur 0,72 Briefe jährlich für den Kopf (absolut 75 Millionen Briefe) zählt, sucht sich hierin den westlichen Nationen an die Seite zu stellen, indem es eifrig bemüht ist, durch Verbesserung seiner Posteinrichtungen der Wohlfahrt des russischen Volkes einen neuen Hebel zu gewähren. Aegypten und die Türkei haben nur einen Procentsatz von 0,17 Briefen auf den Kopf zu berechnen, ein deutlicher Fingerzeig auf die geistige Stockung, in welcher der Orient sich befindet und aus der vielleicht die Bestrebungen der ägyptischen Machthaber die Nilländer noch eher heraus heben werden, als die Politiker am goldenen Horn die weiten Domänen des „kranken Mannes“.

Es würde einseitig sein, auf diese Zahlen allein Schlüsse zu bauen. Der Statistiker muß weitere Grundlagen aufsuchen, um seine Ergebnisse zu berichtigen. In dieser Beziehung ist es von Werth, daß das Verhältniß, in welchem die Zahl der Postanstalten zu der Bevölkerungsmenge steht, ebenfalls die Fortschritte der Culturentwickelung in gleichem Maße erkennen läßt. In Aegypten kommt ein Postamt auf je 113,636 Einwohner, in Rumänien auf 64,286, in Rußland dagegen schon auf 23,351 Bewohner. Frankreich zählt auf 6723 Menschen ein Postamt, Deutschland aus 5757 (Süddeutschland schon auf je 4000), Großbritannien auf 2548, die Vereinigten Staaten von Amerika auf 1160, die Schweiz endlich, welche hierin die erste Stelle einnimmt, auf 1019 Einwohner eine Postanstalt. Die verhältnißmäßig größte Reineinnahme findet sich bei der großbritannischen Postverwaltung, nämlich 10½ Millionen Thaler, sodann folgt die französische mit 10,156,678 Thalern, Rußland mit vier Millionen Thalern und Deutschland mit etwa dreieinhalb Millionen Thalern. Das größte Deficit hat die Postverwaltung der Vereinigten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1875, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_342.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)