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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Verbrecherleben liefern die Polizeiberichte für das Jahr 1874. Laut derselben beträgt die Gesammtzahl der Gefangenen, welche den Polizeirichtern während der Periode vom 3. November 1873 bis zum 31. October 1874 vorgeführt worden, 84,821, was, wenn man die Gesammtbevölkerung New-Yorks auf eine Million veranschlagt, eine Verhaftung auf je zwölf Personen ergiebt. Den General- und Specialassisen wurden von den Verhafteten 8424 überwiesen, 7394 männliche und 1030 weibliche. Die größte Zahl der Angeklagten ist nicht über fünfundzwanzig Jahre alt. Bei einer solchen Lage der Dinge wird man wohl begreifen, wie wohlthätig der mit nächstem 1. Januar in Kraft tretende obligatorische Schulunterricht wirken wird.

Eines Tages entschloß ich mich, eine Tour durch die verrufensten Gegenden der Empire City zu machen. Ich hatte diesen Wunsch lange mit mir herumgetragen, ohne ihn jedoch ausführen zu können, als die Ankunft eines lieben Freundes meiner Unentschiedenheit ein Ende machte. Derselbe war auf dem Wege nach dem fernen Colorado und wollte sich nur wenige Tage in New-York aufhalten Ich begab mich deshalb nach dem Stationshause des vierten Polizeibezirks, um den Capitain zu ersuchen, uns einen Polizei-Agenten zur Verfügung zu stellen. Es war ziemlich nebelig, und die grünen Laternen in Oak Street, welche das Stationshaus anzeigen, flimmerten nur schwach durch die dicke Luft. In dem großen Vorsaale saß hinter einem geräumigen, von zwei Lampen hell erleuchteten Pulte der wachthabende Sergeant, soeben beschäftigt, die Personalien einer alten, abscheulich häßlichen Negerin aufzunehmen, die ein Polizist vagabondirend und „zum Laster aufreizend“ aufgegriffen hatte.

Als ich nach dem Capitain fragte, wies er mich in die Nebenstube linker Hand.

So einfach und kahl der große Raum war, den ich verließ, so schmuck und reinlich war derjenige ausgestattet, den ich betrat. Capitain Williams, ein noch junger Mann mit hübschen, charaktervollen Zügen, saß in einem Stuhle und las die Abendzeitung, indem er dazu eine Cigarre rauchte. Mit der größten Bereitwilligkeit und Liebenswürdigkeit gewährte er meine Bitte und schickte sogleich Boten nach dem durch seine Kühnheit, Kaltblütigkeit und Umsicht bekannten Polizeiagenten Van Boskirk aus.

„Ich bedaure nur,“ bemerkte er hierauf, nachdem er mich zum Sitzen eingeladen, „daß Sie nicht viel Sehenswerthes finden werden. Die schlimmsten Spelunken sind sammt und sonders aufgehoben, unter anderen die Logirhöhlen – mit einem andern Namen kann ich sie nicht gut bezeichnen – des vierten Stadtviertels, förmliche Löcher, in welchen dem, der sie betrat, Schlamm und Wasser bis an die Knöchel gingen. Aufrecht stehen konnten Sie in den wenigsten. In diesen Höhlen wurden des Nachts Stricke ausgespannt, auf welchen für die Besucher Betten zurecht gemacht wurden. Männer und Weiber lagen natürlich bunt durch einander. Der Preis für die Person betrug, wenn ich nicht irre, zwei Cents (achtzig bis zweiundachtzig Cents gleich drei Mark). Diese Löcher sind alle verschwunden, da sich herausstellte, daß sie gemeingefährlich seien und oft Epidemien sich von da über die Stadt verbreiteten.“

Ich fand diese Beschreibung eines Nachtlagers nicht gerade sehr idyllisch und konnte die Frage nicht unterdrücken, wer denn eigentlich die Kostgänger dieser prachtvollen Hôtels gewesen seien.

„Farbiges Volk,“ war die Antwort. „Es ist kaum glaublich, in welcher Unsumme von Unrath und Schmutz sich diese Race wohlfühlt. Höchst selten verliefen sich einige weiße Personen dahin. Außer diesen Höhlen gab es noch eine Anzahl anderer Locale ähnlicher Tendenz, aber wir haben das Geschäft zum größten Theile in die Luft gesprengt.“

Welcher Art dieses Geschäft war, wurde nicht weiter berührt. Da der Polizeiagent noch nicht erschienen war, so machte Capitain Williams den Vorschlag, uns die innere Einrichtung des Hauses zu zeigen, was mein Freund und ich mit großem Danke annahmen. Wir besichtigten den Telegraphen, der mit dem Hauptquartiere in Verbindung steht, den höchst einfach möblirten Wartesaal für die Mannschaften und stiegen nach den Schlafstätten für heimathlose Personen hinauf, die zumeist im Winter stark benutzt werden. Wir traten in einen langen kahlen Raum, in dem sich hölzerne Pritschen befinden. Eine wollene Decke vollendet das Bett. Doch hat das Zimmer bei all’ seinen Mängeln einen großen Vortheil für Obdachlose – es ist geheizt. Und wenn der eiskalte Nordwind durch die Straßen fegt und die Schritte der Passanten beschleunigt, dann sammeln sich jene unglücklichen Geschöpfe schaarenweise vor den Stationshäusern und bitten um Aufnahme. Leider erweisen sich diese Plätze bei großer Kälte meist als zu klein, und mancher muß mit schwerem Herzen, der Verzweiflung nahe, wieder abziehen. Wie sich von selbst versteht, sind die beiden Geschlechter streng geschieden und werden in verschiedenen Räumlichkeiten untergebracht.

Unter diesen primitiven Herbergen öffnete der Capitain eine schwere eiserne Gitterthür, die zu den Gefangenenzellen führte. Dieser Theil des Gebäudes ist von massiven Quadern aufgeführt. In den Wänden sind Nischen, in denen sich eine breite hölzerne Pritsche als Lager für den Gefangenen befindet. Außerdem sind in der Ecke eine Wasserleitung und eine Commodité angebracht. Die Nischen, die so groß sind, daß ein Mann sich zur Noth darin bewegen kann, werden wieder durch schwere eiserne Gitterthüren verschlossen. Obwohl ein kleiner eiserner Ofen in der Mitte des Ganges beständig feurige Gluthen ausspeit, ist doch die Temperatur dieser Zellen feucht und unangenehm. Die gewaltigen Quadern sind mit herabrieselnden Tropfen bedeckt und die ganze Luft ist moderig.

Als wir wieder in den vorderen Saal traten, wartete unser Führer Van Boskirk bereits auf uns. Capitain Williams überlieferte uns demselben, und wir hatten allen Grund, mit ihm zufrieden zu sein. Van Boskirk, ein geborener Amerikaner, ist eine schlanke, geschmeidige Gestalt, etwas über Mittelgröße. Ein wohlgepflegter, schwarzer Schnurrbart giebt seinem Aussehen etwas Kühnes, zu dem auch der durchdringende Blick wohl paßt. Seine Erscheinung ist die eines Mannes, dem man nicht gerne als Feind gegenüber treten möchte. Alles an ihm ist Muskel, Kraft, Gelenkigkeit. Dabei ist sein Auftreten fern von jeder Anmaßung. Im Gegentheil machte sein fast bescheiden zu nennendes Wesen den besten Eindruck. Er trug einen einfachen, doch eleganten schwarzen Anzug, den er jedoch fest zugeknöpft hielt.

Als wir durch die nebligen Straßen dahinwandelten, war meine erste Frage an ihn, ob es ihm nicht mitunter unheimlich sei, so allein durch alle Verbrecherhöhlen zu gehen.

Es war ein feines Lächeln, das für den Augenblick auf seinem Gesichte spielte.

„Es ist dies eine Frage,“ antwortete er, „die mir sehr häufig vorgelegt wird, und sie ist auch wohl natürlich. Ich kann Ihnen indessen die Versicherung geben, daß ich selten das, was man Angst nennt, empfunden habe. Sie werden gewiß in den Blättern gelesen haben, daß ich schon zu verschiedenen Malen in recht heiklichen Lagen war. Wirkliche Furcht erinnere ich mich nur einmal gehabt zu haben, und damals allerdings hätte ich um mein Leben keinen Heller gegeben. Ich glaube, die Geschichte ist interessant genug, um sie Ihnen zu erzählen. Ich wurde im Jahre 1867 einer Fälscherbande nachgeschickt, der wir auf die Spur gekommen waren. Nach langem Forschen entdeckte ich endlich in dem kleinen Städtchen Houston in Texas die zwei Hauptgeschäftsführer der Bande, und es gelang mir, mit denselben in Geschäftsverbindung zu treten. Nach und nach kaufte ich den Hallunken für circa zweitausend Dollars gefälschtes Geld, natürlich auf Staatskosten, ab, wobei ich ihnen fünfzehn Cents für den Dollar bezahlte. Sie sehen, das Geschäft war ein recht einträgliches. Dadurch hatte ich nun die Mittel in die Hand bekommen, die Burschen jeden Augenblick verhaften lassen zu können, aber dies genügte mir nicht. Mein Hauptbestreben war, das ganze Nest aufzuheben, oder doch wenigstens die Platten in meinen Besitz zu bekommen. Lange unterhandelte ich vergebens. Endlich gaben sie nach und versprachen, mich mit sich nach New-Orleans zu nehmen, wo mir die Platten gegen den Preis von fünftausend Dollars ausgehändigt werden sollten.

Wir hatten uns bereits zur Reise fertig gemacht, als plötzlich, wie ich glaube, durch die Unvorsichtigkeit meiner eigenen Leute, die Brüder Wind bekamen.

Ahnungslos kam ich also eines Tages in ihre Wohnung, eine Dachkammer, als der Aeltere die Thür hinter mir zuschloß. Der Andere spielte mit einer Pistole und sagte kaltblütig: ‚Das Spiel ist zu Ende.‘ Gefangen in der eigenen Falle! Das Blut strömte mir heiß in die Schläfe. Es flimmerte mir vor den Augen. Da standen die beiden Schufte mir gegenüber,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_367.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)