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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

schönsten Straßen fest, nahmen die vornehmsten Quartiere in Beschlag; viele von diesen Leuten zahlten an Miethe 6000 bis 20,000 Thaler jährlich.

Die unaufhörliche Steigerung, die völlige Verschiebung der Miethspreise ließ die Bevölkerung beständig umherziehen und nöthigte einen großen Theil zur Auswanderung. Tausende von Arbeitern, Handwerkern, Beamten etc. konnten das Wohnen in Berlin nicht mehr erschwingen und ließen sich auf den Dörfern in meilenweitem Umkreise nieder. Auch die höhern Stände wurden weiter und weiter in die Vorstädte, bis an die Grenzen des Weichbildes und darüber hinaus gedrängt. Das sogenannte Geheimrathsviertel führt seinen Namen nicht mehr mit Recht, der Geheimrath ist hier selten geworden, oder er findet sich nur drei Treppen hoch, und statt seiner sitzen in der Beletage – Banquiers und Börsianer. Ebenso ist es den Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern ergangen, die früher das „Westend“ vor dem Potsdamer Thor erfüllten. Auch sie haben sich vor den Herren von der Börse weiter und weiter, höher und höher zurückziehen müssen.

Selbstredend stieg mit den Miethen auch der Werth der Häuser und der Begehr nach ihnen. Ein Haus in Berlin war bis dahin ein ziemlich zweifelhafter Besitz. Gar viele Bauunternehmer und Bauspeculanten der vierziger, fünfziger und auch noch der sechsziger Jahre hatten ihr menschenfreundliches Bemühen, die „Wohnungsfrage“ zu lösen, hart büßen müssen, indem sie ihre kurze Laufbahn gewöhnlich in „Möser’s Ruh“, in dem damaligen Schuldgefängniß, beschlossen. Auf allen Häusern lasteten große Hypotheken. Der Grundbesitz in Berlin war mit vier Fünftel des Werths verschuldet. Reiche und vornehme Familien pflegten lieber zur Miethe zu wohnen. – Das änderte sich nun mit einem Schlage. Privat- und Geschäftsleute kauften plötzlich um die Wette Häuser, um der ewigen Miethssteigerung zu entgehen, um nicht etwa ausgemiethet zu werden. Banken und Actiengesellschaften, Banquiers und andere Geldleute erstanden in „bester“ Gegend die „feinsten“ Häuser. Seitdem befinden sich die stolzesten Paläste im Innern der Stadt und die herrlichsten Villen rings um den Thiergarten im Besitz der Kinder des auserwählten Volks, in den Händen der Börsianer und Gründer.

Sobald das eigene Bedürfnis befriedigt war, begann die Speculation, der Schwindel. Man kaufte Häuser, nicht um sie zu behalten, sondern um sie so schnell wie möglich mit Profit wieder loszuschlagen. Ein und dasselbe Haus wechselte oft Tag für Tag den Besitzer, ein und dasselbe Haus wanderte an Einem Tage, an Einem Abend durch sämmtliche Stämme Israels, durch zwölf und mehr Hände, und jede „Hand“ verdiente dabei fünf-, zehn-, zwanzig- und auch wohl fünfzigtausend Thaler. An und außerhalb der Börse wurden Grundstücke wie Effecten verhandelt, wurden die „Schlußscheine“ von Häusern mit immer höherem Aufgeld bezahlt. Die Preise erreichten eine fabelhafte Höhe, standen bald in keinem Verhältniß mehr zu dem Miethserträgniß und zu dem eigentlichen Werthe der Baulichkeiten; jeder Maßstab ging verloren; ganz willkürliche Schätzungen gewannen die Oberhand – es blühte der Schacher. Jeder Hausbesitzer wurde belagert, mit Angeboten bestürmt – und wußte nicht mehr, was er fordern sollte. Manche erhöhten ihre Forderung von Tag zu Tag, und wenn die verwegenste Forderung endlich bewilligt oder, wie es auch vorkam, noch gar überboten wurde, wagten sie doch nicht loszuschlagen, aus Furcht, sie könnten sich übereilen, sich Schaden zufügen. Einer dieser Unglücklichen, der nacheinander 120,000, 150,000 und 200,000 Thaler verlangt hatte, verkaufte schließlich für 250,000 Thaler, wodurch ihm ein baarer Gewinn von 180,000 Thalern zufiel. Als aber vierzehn Tage später sein ehemaliges Haus von einer Bank für 300,000 Thaler erstanden ward, übermannte ihn die Verzweiflung und er – knüpfte sich auf!

Die Gerechtigkeit verlangt zu vermerken, daß der Häuserschacher nicht ausschließlich von den Börsenrittern und Israeliten betrieben wurde, sondern auch von anderen Leuten, namentlich von Mitgliedern der Aristokratie, die ja überhaupt der Börse und den Gründern eine Reihe höchst gelehriger Schüler und sehr bereitwilliger Gehülfen lieferte. Verschiedene hochadelige Herren verschmähten es nicht, gleichfalls „in Häusern zu machen“. So meldete die „Neue Börsen-Zeitung“ unterm 2. December 1871, ein bekannter schlesischer Magnat habe durch Häuserspeculationen in Berlin in wenigen Monaten an 300,000 Thaler verdient. „Der genannte Herr“, hieß es, „der seine Operationen meist in Verbindung mit einer Dame von hocharistokratischem Namen unternimmt, hat außerdem eine Anzahl Grundstücke an sich gebracht, deren Verkauf mit Gewinnbeträgen in gleicher Höhe so gut wie gesichert ist.“

Aber nicht genug an dem tollen Häuserschacher: es begann nun auch noch der Wucher mit Baustellen. Aus den Speculanten wurden – Gründer, und ihre ersten Schöpfungen entsprachen anscheinend einem allgemein empfundenen Bedürfnisse. Die Gründer bemächtigten sich der „Wohnungsfrage“; sie erklärten, der „Wohnungsnoth“ abhelfen zu wollen und gründeten zu diesem Zwecke Actiengesellschaften über Actiengesellschaften. Sie kauften Häuser und Grundstücke in der Stadt und legten sie nieder; sie kauften öffentliche Gärten und Etablissements und verwandelten sie in Bauplätze; sie kauften die Kartoffeläcker und Gemüsefelder in den Vorstädten, die Wiesen, Sümpfe und Sandschollen vor den Thoren, die Weiden und Ländereien der benachbarten Dörfer und steckten überall Häuserzeilen und Straßenviertel ab. Aus den Gärtnern der Vorstädte, aus den Bauern der Umgegend wurden große Capitalisten, die nicht recht wußten, was sie mit ihrem Gelde anfangen sollten, und es bald der Börse zutrugen. Im zweimeiligen Umkreise von Berlin gab es plötzlich keine Aecker und Felder mehr – nur Baustellen und Baugründe. Vor den Thoren wurde die Quadratruthe mit 50 bis 500, in der Stadt mit 1000 bis 10,000 Thalern bezahlt. Das aber bedeutete die ungeheuere Vermehrung des Nationalvermögens.

Die Menge der Bauvereine, Baugesellschaften und Baubanken war bald so groß, daß es an Namen für sie gebrach, daß selbst Börsenleute sich in dem Labyrinth dieser Namen nicht mehr zurechtfinden konnten. Man höre: Nord-End, Ost-End, Süd-End, West-End (Quistorp), Thiergarten, Thiergarten-Westend, Hofjäger, Unter den Linden, Passage, Centralstraße, City, Königsstadt, Friedrichshain, Schönhausener, Nieder-Schönhausener, Tempelhofer, Belle-Alliance, Wilhelmshöhe, Landerwerb, Land- und Baugesellschaft Lichterfelde, Lichterfelder, Cottage, Charlottenburger, Berlin-Charlottenburger, Johannisthal, Woltersdorf, Potsdam, Westend-Potsdam, Berolina, Berliner Neustadt, Mittelwohnungen, Immobilien, Berlin-Hamburger Immobilien, Union, Berliner Bauvereinsbank (Wäsemann), Berlinische Bank für Bauten, Berliner Häuserbaugenossenschaft, Allgemeine Häuserbaugesellschaft, Gesellschaft für Bauausführungen, Deutscher Centralbauverein (Quistorp), Deutsch-Holländischer Bauverein, Deutsche Baugesellschaft, Deutschlands Baubeförderungsverein, Preußische Baugesellschaft, Preußische Baubank, Märkische Baubank, Provinzial-Baubank, Provinzialbank für Bauten und Handel, Allgemeine Bau- und Handelsbank, Centralbank für Bauten, Metropole, Immobilienbank, Hypothekar-Credit- und Baubank, Nordbaubank, Residenz-Baubank, General-Baubank, Imperial-Baubank.

Das sind aber noch nicht alle. – Die „Neue freie Presse“ theilte kürzlich mit, daß in Wien 43 Bau- und Baumaterialien-Gesellschaften „domiciliren“, und die „National-Zeitung“ beeilte sich, die Notiz ihren Lesern wiederzugeben. Als ob diese Zahl in Berlin etwa nicht erreicht wäre! Nicht nur erreicht, sondern sehr übertroffen. In Berlin „domicilirten“ gut 80 solcher Gesellschaften, von denen sich heute eine Reihe in Liquidation oder in Concurs befinden. Die Zahl der Bau- und Baumaterialiengesellschaften aber in Nord- und Mitteldeutschland, die zum größten Theil an der Berliner Börse gehandelt wurden, betrug weit über 100.

Hätten die Gründer ihre Bauprojecte durchgeführt, so wäre der Bedarf an Wohnungen für Zeit und Ewigkeit gedeckt gewesen. Der kürzlich verstorbene Statistiker Schwabe hat berechnet, daß die in Aussicht gestellten Neubauten für eine Bevölkerung von neun Millionen zureichen würden, und daß in Folge dessen Berlin zu einer Riesenstadt anwachsen müßte, noch dreimal größer als das heutige London. Aber von all den zahllosen Baugesellschaften bauten in Wirklichkeit nur wenige, äußerst wenige, und sie bauten Häuser und Villen für die wohlhabenden Classen, oder sie machten aus kleinen Wohnungen lauter große. Erst mit den Baugesellschaften begann der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_384.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)