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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Wohnungsjammer, namentlich für die unteren Stände. Dazu kam ein außerordentlich starker Zuzug, eine massenhafte Einwanderung. Die neue Freizügigkeit, der ihre Urheber, die Manchesterleute, alsbald gegenüberstanden wie der Zauberlehrling bei Goethe dem Zauberbesen, überfluthete Berlin, und der Gründungsschwindel lockte Schaaren von Leuten aus den Provinzen in die Hauptstadt, die alle hier ein Eldorado zu finden wähnten. Aber sie fanden häufig genug kein Obdach, oder sie machten Andere obdachlos und trieben sie hinaus.

Da trug sich etwas höchst Bedenkliches zu. Wie einst im alten Rom die Plebejer unter dem Drucke der Patricier die Stadt verließen und sich auf dem heiligen Berge festsetzten, so zogen Hunderte von Handwerkern und Arbeitern aus Berlin und schlugen vor den Thoren, unter freiem Himmel ihr Lager auf. Auf dem Tempelhofer Felde entstand die Barackenstadt, und Viele hausten in alten Eisenbahnwagen, unter den Drehscheiben der Bahnhöfe und unter den Viaducten der Verbindungsbahn. Wie zu einem Schauspiele wallfahrteten die Berliner hinaus, und die Zeitungen schilderten die „Barackia“ in farbigen, launigen Feuilletons. Das aber geschah, während der Milliardenstrom sich über Deutschland ergoß, und die Gründer und ihre Helfershelfer den „allgemeinen Wohlstand“, die „ungeheure Vermehrung des Nationalvermögens“ predigten. Die Regierung empfand den bittern Hohn und hob die Baracken auf.

Weitaus die Mehrzahl der Baugesellschaften baute nicht und beabsichtigte auch gar nicht zu bauen. Sie entwarfen Baupläne, steckten Straßen, Straßenviertel und Marktplätze ab, chaussirten und legten Trottoirs, parcellirten und „schlachteten Baustellen aus“. Um Käufer anzulocken, hielt man „Baustellen mit Baugeld“ feil; das heißt, die Baugesellschaft, die häufig zugleich eine „Baubank“ war, schoß das Geld zum Bauen vor und stundete wohl auch noch die Kaufsumme für den Bauplatz theilweise oder gänzlich. Trotzdem blieben die Baulustigen vereinzelt, und die da bauten, fanden in der Regel nicht ihre Rechnung. Als im vorigen Sommer die Villencolonie Lichterfelde ein gemeinsames Fest beging, erhob sich einer der Theilnehmer zu einer Tischrede. Eine classische Reminiscenz aus Tertia überkam ihn, und er sprach die geflügelten Worte: „Als die verwittwete Frau Dido Karthago anlegte, zerschnitt sie bekanntlich das Fell eines Stiers in lauter dünne Riemen. Wenn aber heute eine Colonie gegründet wird, so braucht man mehr als Einen Ochsen, so sind dazu viele Ochsen nöthig. Meine Herrschaften, ich bin einer der Ersten, die hier gebaut haben.“ –

Um ihre Actien unterzubringen, warfen die Baugesellschaften Bauzinsen aus – das ist wieder eine Art der famosen „Börsenzinsen“. „Während der Bauzeit“ sollten die Actionäre vier, fünf oder gar sechs Procent Zinsen erhalten, und viele Baugesellschaften zahlten jahrelang Bauzinsen – ohne je zu bauen. Selbstverständlich staken die „Bauzinsen“ schon in dem so hoch wie möglich gegriffenen Actiencapitale, und die Actionäre bezahlten sie thatsächlich wieder selber, aus der eigenen Tasche. Dieses Verfahren ist aber nicht nur eine Taschenspielerei, sondern auch gesetzwidrig. Das Actiengesetz vom 11. Juni 1870 besagt in Artikel 217 ausdrücklich: „Zinsen von bestimmter Höhe dürfen für die Actionäre nicht bedungen noch ausgezahlt werden“. „Bauzinsen“ sind im Grunde genommen „eine theilweise Zurückzahlung“ des Actiencapitals, die Artikel 248 verbietet. Die Gründer aber rechtfertigten ihre Machinationen durch den Nachsatz zu Artikel 217, der allerdings so lautet: „Jedoch können für den im Gesellschaftsvertrage angegebenen Zeitraum, welchen die Vorbereitung des Unternehmens bis zum Anfange des vollen Betriebes erfordert, den Actionären Zinsen von bestimmter Höhe bedungen werden.“ Gestützt auf diesen Nachsatz, zahlten die Baugesellschaften, die nie bauten, Bauzinsen, und der Staatsanwalt scheint sich diesem Nachsatze gegenüber ohnmächtig gefühlt zu haben – ein Beweis von dem Werthe des neuen Actiengesetzes, ein Beweis von seiner flüchtigen Redaction, seiner mangelhaften zweideutigen Fassung, ein Beweis, wie dringend es auch jetzt noch, wo die Kinder freilich in den Brunnen gefallen sind, einer Revision bedarf.

Eine Reihe von Baugesellschaften und Baubanken vertheilte auch Dividenden, und zwar so hohe Dividenden, daß man’s im Hinblicke auf den heutigen Coursstand kaum glauben möchte. Wir geben zur besseren Uebersicht folgendes Tableau:

  Ver-   Gegen-
  theilte an Einstiger wärtiger
  Dividende Cours Cours
  % ca. ca.
Centralbank für Bauten, gegründet von
     den Herren Eduard Mamroth, Heinrich
     Bergmann, Ferdinand Appenheim, Leo
     Wollenberg, Dr. Stort, Geh. Admiralitätsrath
     Wandel
43 420 45
Ostend, gegründet von den Herren Eduard
     Mamroth, Maurermstr. Siecke, Dr. Erich
     und Genossen
11 120 14
Südend, gegründet von den Herren Eduard
     Mamroth, Heinr. Bergmann, S. H. Ellom,
     Georg Neumann, D. Tobias
15⅜ 125 9
Landerwerb und Bauverein, gegründet von
     den Herren D. Born, Albert Kämpf,
     H. Simon, Baumeister Hähnel
40 200 23
Land- und Baugesellschaft Lichterfelde,
     gegründet von den Herren Karl Coppel,
     Gustav Markwald, J. A. W. Carstenn,
     General Freiherr Ed. v. Steinäcker,
     Landrath Leo van dem Knesebeck
25 155 25
Lichterfelder Bau-Verein, gegründet von den
     Herren D. Born, George Beer, M. Levy,
     Rechtsanwalt Winterfeld
9 120 15
Berliner Bauvereins-Bank, gegründet von
     den Herren Hermann Geber, R. A. Seelig,
     J. Ball., J. A. Gilka, Max Moßner,
     Gustav Thölde, Baurath Wäsemann,
     Baumeister Erdmann
11 110 30
Berlin-Charlottenburger Bau-Verein, gegründet
     von den Herren Richard Schweder,
     J. A. W. Carstenn, Paul Munk, Gustav
     Markwald und Genossen
125/9 115 25
Birkenwerder, gegründet von den Herren
     A. H. Heymann, Gustav Markwald, Oscar
     Krause, Franz Pernet[WS 1] und Genossen
11 115 15
Thiergarten[WS 2], gegründet von den Herren
     Paul Munk, George Beer, Hermann
     Reimann, Consul Schillow, Richard
     Schweder, Joseph Dorn, Dr. Emil
     Lehmann
20 140 9
Königstadt[WS 3], gegründet von den Herren
     Rich. Schweder, George Beer,
     Kammerherr von Prillwitz und Genossen
12 115 25
Westend (Quistorp) 17 225 12
Deutscher Centralbauverein (Quistorp) 15 165 2
Nordend, gegründet von den Herren
     A. Lilienhain, Dr. Max Mattner, Karl Böhm,
     Karl Stiller, Rechtsanwalt Lorek
22 140 0

Wenn der Leser die Course von ehemals und heute vergleicht und bemerkt, daß die letzteren zum Theile tief unter den früher gezahlten Dividenden stehen, so wird er staunend ausrufen: Wie ist’s nur möglich?! – Den Gründern war eben Alles möglich. Sie machten künstlich Dividenden als Lockspeise, entweder um die meist noch unbegebenen Actien an den Mann zu bringen, oder um das Actiencapital zu vermehren und „junge Actien“ zu emittiren. Befand sich das Gros der Actien noch in den Händen der Gründer, so zahlten sie die Dividende einfach an sich selber – ein Scherzspiel, das ihnen wenig kostete. Oder aber sie schossen die Dividende aus dem Erlöse der verkauften Actien zusammen; sie opferten einen Theil der Beute, um neue zu machen. Die ersten Käufer der ausgeschlachteten Baustellen waren in der Regel die Gründer selber, und sie blieben nicht selten die einzigen Käufer. Sie zahlten, ohne zu feilschen, die höchsten Preise; denn sie bezahlten im besten Falle mit den von ihnen fabricirten Actien.

In keinem Falle war die Dividende ernstlich verdient, und sie konnte es nicht sein. Auch wo es der Gesellschaft gelang, eine Reihe von Parcellen wirklich zu verkaufen, blieb sie doch immer im Besitze des allergrößten Theiles der Ländereien. Diese aber hatten schon die Gründer weit über ihren wahren Werth bezahlt, und noch weit höher standen sie zu Buch – noch weit mehr kosteten sie den Actionären. Eine Dividende durfte daher eigentlich nicht eher gegeben werden, bis der ganze Complex veräußert worden, und die aus dem Erlöse weniger Parcellen construirten unnatürlich hohen Dividenden sind in Wahrheit wieder „eine theilweise Zurückzahlung“ des Capitals, eine unerlaubte strafbare Manipulation. „Es darf nur dasjenige unter die Actionäre vertheilt werden, was sich als reiner Ueberschuß über die volle Einlage ergiebt“ – heißt es in Artikel 217 des Actiengesetzes. Wo aber konnte von einem „reinen Ueberschusse“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_385.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2019)