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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Schröder es thaten, und ich schob es auf die Unbekanntschaft mit dem vorhandenen Vorrath in den Repositorien.

Dann ging ich langsam nach Hause. „Also das,“ sagte ich unterwegs sinnend zu mir selbst, „also das ist ein Sonnenstrahl.“




Der junge Arnold war bald der Liebling Aller, welche den Buchladen des Herrn Ritius besuchten. Man sah nicht mehr die düstere Lage des Zimmers, nicht die altmodische Kleidung des alten Buchhalters. Jedermanns Auge ruhte mit Wohlgefallen auf dem freundlichen jungen Manne in altdeutscher, kleidsamer Tracht, im schwarzen, mit Schnüren besetzten Sammetrocke; schien er doch durch sein goldiges Haar und sein liebenswürdiges Wesen den ganzen Raum zu erleuchten. So ist es mir in späteren Jahren erschienen und vor die Seele getreten; damals empfand ich nur den Zauber des wohlklingenden Organs und den Blick des freundlichen sprechenden Auges. Das mußten auch wohl die meisten meiner Schulgefährtinnen finden; wenn sie sonst nicht gern dort verkehrt hatten, weil Herr Schröder so wortkarg war, so war bald keine einzige, welche den Herrn Arnold nicht gekannt und sein Loblied nicht gesungen hätte.

Nun war er schon drei Viertel Jahr in unseren Mauern. Ein harter Winter, wie wir deren an der nordischen Seeküste kennen, brachte die Freuden der Schlittenbahn über Land und auf dem Eise. Wir wohnten ganz nahe am Flusse, welcher sich eine halbe Meile von der Stadt bis zum Ausflusse in’s Meer erstreckt und die schönste Eisbahn bietet.

An einem klaren schönen Wintertage – es war Sonntag, und meine Eltern waren zur Kirche gegangen – kam der junge Arnold zu uns, um dem Vater eine Bestellung von Herrn Ritius zu überbringen und gleichzeitig an mich die Bitte zu richten, mit ihm auf’s Eis zu gehen, um entweder mit ihm Schlittschuh zu laufen, oder mich von ihm im Schlitten über die Eisfläche schieben zu lassen. Ein Paar nagelneuer Schlittschuhe hingen an seinem Arme, ein Geschenk des Onkels, wie er mir erzählte.

„Wie gern würde ich mit Ihnen Schlittschuh laufen! Es ist heute so wunderschönes Wetter, und gewiß so lustig auf dem Eise, doch geht es leider nicht an. In Abwesenheit der Eltern muß ich das Haus, die kleineren Geschwister und die Dienstboten überwachen, auch nach dem Mittagsessen sehen,“ sagte ich mit Selbstbewußtsein, „und dieses Schwesterchen hier geht nicht von meiner Seite, so lange Mama fort ist. Ja, es ist recht schade – es ist so herrliche Eisbahn.“

Arnold ließ betrübt den Kopf hängen und sagte, daß der Onkel ihn dazu besonders ermuthigt habe.

Eine Rolle, welche er in der Hand hielt, überreichte er mir mit dem Bemerken, es seien die gewünschten Variationen über das Thema „Die letzte Rose“. Freudig ergriff ich die Rolle; indem ich sie auseinander faltete, entfiel ihr eine herrliche weiße Theerose, welche Arnold aufhob und sie mir mit dem Bemerken übergab, daß der Onkel ihm gesagt, ich hätte diese Rosen so gern, und ihm erlaubt habe, dieselbe für mich abzuschneiden.

„O, ich danke Ihnen für diese Aufmerksamkeit. Wie wunderschön ist diese Rose mitten im Winter erblüht!“

„Ich sehe, Sie haben auch schon eine halb erblühte dort am Fenster, so frisch und roth. Es ist wohl eine Monatsrose?“ bemerkte er, sie betrachtend.

„Jawohl,“ erwiderte ich, „ich habe fast das ganze Jahr hindurch frische Rosen. Diese da wird in höchstens einer Stunde ganz aufgeblüht sein; sie ist nicht so gefüllt, wie die herrliche Theerose hier.“

„Da ist noch eine Knospe,“ sagte er, „wenn es helles, freundliches Wetter bleibt, ist auch sie in wenigen Tagen aufgeblüht. Es macht viel Freude, so eine Blume nach der andern kommen zu sehen, nicht wahr?“

Ich nickte bejahend mit dem Kopfe. Die gestörte Eispartie machte mich schweigsam.

„Da werde ich also heute allein auf’s Eis gehen müssen, komme aber hernach noch einmal heran, um die Bestellung von meinem Onkel an Ihren Herrn Vater selber auszurichten und seine Aufträge entgegen zu nehmen.“

Dabei stand er noch immer vor meinem Rosenstocke mit der halb erblühten Rose, richtete sie in die Höhe, roch daran und sah bittend zu mir herüber. Ich glaubte die stumme Bitte zu verstehen, nahm eine Scheere, schnitt die Rose ab und reichte sie ihm.

Er befestigte sie im Knopfloche, und noch heute sehe ich, wie schön sie sich auf dem neuen schwarzen Sammtrocke ausnahm, aus dem, umrahmt vom blendend weißen Umschlagkragen, der jugendlich schöne Kopf so froh und dankbar blickte.

„Aber nun müssen Sie sich beeilen, auf’s Eis zu kommen; wenn Sie zurückkehren, wird die Rose im Knopfloche wohl erfroren sein,“ sagte ich lachend.

„O, die Sonne scheint warm und hell, und im Laufen gegen den Wind werde ich sie mit der Hand schützen.“ Damit ging er. Ich begleitete ihn bis zur Hausthür und sah ihm so lange nach, bis er hinter dem Thorbogen verschwunden war, wo es abwärts auf den Fluß ging.

Ich setzte mich dann eine kurze Zeit in des Vaters Lehnstuhl und drückte die Hand vor die Augen; ein seltsames Gefühl kam über mich. War der Sonnenstrahl nicht allein in das alte Haus, war er auch in mein junges Herz eingezogen?




Die Glocken läuten wiederum; die Kirche ist aus. Einzelne heimkehrende Kirchgängen kommen vorbei und grüßen mich durch das Fenster. Heller scheint die Sonne; sie steht fast im Mittag. Von den niedrigen Dächern, die mit langen Eiszapfen geziert sind, tropft es hörbar. Ich war schon einige Male hinausgegangen, nach rechts zu schauen, ob die Eltern noch nicht aus der Kirche kämen, doch auch nach links; von dort mußte Arnold kommen. „Die Eltern machen wohl noch einen Besuch, und er ist gewiß bis nach Wyk gelaufen und hat Bekannte gefunden.“

Ich kehre in’s Zimmer zurück, öffne das Piano und versuche, die eben erhaltenen Variationen zu spielen. Nur das einfache Thema gelingt mir; zum Weiterspielen hatte ich heute nicht Zeit, nicht Ruhe; die Eltern mußten ja auch bald nach Hause kommen.

Wie die Knaben laufen, nach dem Eise zu kommen, hinunter an’s Bollwerk! Das muß ich sehen. Hinaus vor die Thür! Viele Menschen stehen da am Thore – jetzt theilt sich der Knäuel. Die Menge weicht zurück, um einen freien Durchgang zu gestatten. Zwei starke Männer, der Kleidung nach Fischer, kommen mit einer Tragbahre. Näher rückt der Zug. Die wachsende Menge folgt. „Es ist Jemand ertrunken,“ hört man jetzt rufen. Alles sieht hinaus, kommt heraus; ich war ja schon da. Jetzt sehe ich bei einem frei gewordenen Durchblicke zuerst an den Füßen des auf der Bahre Liegenden blanke Schlittschuhe, welche hell und stechend in der Sonne glänzen. Mir stockt das Blut – ich fliege heran; die Augen treten mir fast aus dem Kopfe. Der Körper des Ertrunkenen ist mit einem Fischerrocke zugedeckt.

„Wen habt Ihr da? Wer ist ertrunken, Vater Rüterbusch?“ Es ist ja unser Nachbar, der alte Fischer, der voran die Tragbahre trägt. Sie setzen sie nieder, um auszuruhen.

„Ja, schade um das schöne, junge Blut!“

„Mein Gott! es ist doch nicht – –?“ und die Menge durchbrechend, entferne ich mit hastiger Hand die deckende Hülle – kalt und starr liegt das noch soeben blühende Leben vor mir; die blonden Locken hängen in langen Strähnen herab. Dem alten gutmüthigen Fischer rinnen die Thränen über die rauhen Backen.

„O, mein liebes Fräulein Dortchen! Ich sah ihn noch eben, wie er so stolz daher segelte; er schwenkte sich rechts; er schwenkte sich links in großen Bogen. Die Sonne schien so hell auf ihn herab, und so recht stolz und selig stürmte er vorwärts. Aber die Sonne war für ihn zu hell; sie blendete ihn. Da unten bei der Schlemmkreidefabrik sind Wacken in’s Eis gehauen, und obgleich Pfähle mit Strohbündeln als Warnungszeichen daneben stehen – er hat nichts gesehen und mit voller Fahrt ging’s hinein, schneller als man’s denken kann. Hier, mit dem Bootshaken haben wir ihn nach langem Suchen gefaßt.“

Eine welke, halb entblätterte Rose steckte noch in seinem Knopfloche. Der alte Fischer wollte sie entfernen. „O, laßt sie ihm!“ rief ich, „rührt sie nicht an!“ Und heiß fiel aus meinem Auge eine Thräne auf die Blumenleiche.




In dem hellen sonnigen Zimmer nach der Fährstraße stand der Sarg aufgebahrt. In demselben Anzuge, worin er seinen Tod gefunden, lag der liebe Jüngling da – die entblätterte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_442.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2021)