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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

sicher, als später die beiden kleinen Boote, mit einem großen Theil der Mannschaft das Land erreicht haben.

Erst als nun, bei eintretender Fluth, einzelne kleine Wellen über Deck kamen, brachten der Capitain und einige Matrosen die Kanone auf das Vordertheil des Schiffes. Ich stand dabei, als das Stück geladen und das Zündhütchen aufgesetzt wurde; wie ich voraus wußte, war das Entladen des Schusses nicht möglich, der Hahn rührte sich nicht. Da sprang einer meiner Freunde, welcher bei der Artillerie gedient hatte, Wilhelm Koch aus Hannover, bei, und weil dieser sofort erkannte, daß mit dem verwahrlosten Geschütz so nichts anzufangen sei, holte er von der rechten Seite der Brücke, wo Raketen und andere Feuersignale abgebrannt wurden, eine Rakete herbei, entzündete sie und löste mit ihr den Schuß. Auf diese Weise feuerte er etwa sechs oder sieben Mal. Ich glaube nicht, daß es den Matrosen gelungen wäre, ohne seine Hülfe auch nur einen einzigen Schuß abzufeuern.

Während derselben Zeit, also erst nachdem die Fluth ihre Wirkung auf das Schiff begonnen hatte, wurden die größten Anstrengungen gemacht, die großen Boote herabzulassen. Warum dies nicht gelang, habe ich bereits gesagt. – Es war jetzt ungefähr halb ein Uhr. Die Wellen kamen öfter und immer stärker über Deck, und die Verwirrung wuchs mit jedem Augenblicke, denn um diese Zeit mag es gewesen sein, wo die in die zweite Kajüte Eingesperrten die Thür sprengten und auf das Verdeck stürmten. Jetzt machten die Passagiere selbst den Versuch, die Boote herabzulassen, und es entstand um dieselben ein furchtbares Gedränge. Da feuerte der Capitain drei Revolverschüsse über die Köpfe ab, um die Menge von den Booten zurückzuhalten und sie in die Kajüten zurückzutreiben. Eine große Anzahl der Passagiere begab sich wirklich wieder dorthin. Diejenigen, welche auf dem Deck blieben, mußten sich größtenteils in das Steuerhaus und Kartenzimmer zurückziehen; mich und einige meiner Freunde wies man in einen kleinen Behälter neben dem Steuerhause, in welchem Eimer, Taue und dergleichen aufbewahrt wurden. Mit jeder Minute wuchs die Wucht der Wellen und mit ihr die Erschütterung des Schiffs.

Da brach das Unglück in seiner furchtbaren Gewalt herein und forderte der Tod gleich ein Massenopfer. In zwei der großen Boote, die, weil sie wenigstens sechs Fuß über dem Decke schwebten, den Wellen noch nicht immer ausgesetzt waren, hatten sich soviel Passagiere geflüchtet, als sie nur fassen konnten. Da, mit einem Wogenschlage, stürzt der hintere Schornstein um und mitten auf das eine der Boote. Das Jammergeschrei war herzergreifend. Aber während man den Gedanken an so viele mit einem Schlage verlorene Menschenleben noch nicht recht fassen konnte, riß am anderen Boote das eine der Taue, und alle Insassen stürzten in’s Meer und wurden von den Wogen spurlos fortgeschwemmt.

Mit dieser Katastrophe hatte alles Abschließen der Passagiere ein Ende; von jetzt an hieß es nur noch: Rette sich, wer kann! – Auch ich verließ mein Zwangsversteck und suchte einen Platz auf der Officiersbrücke zu gewinnen, auf welcher schon eine große Anzahl Männer, Frauen und Kinder zusammengedrängt standen. Von hier aus bemerkte ich, daß mehrere Personen, darunter der erste und vierte Officier, sich zu den Masten hinauf gearbeitet hatten. Sofort suchte ich ihrem Beispiele zu folgen. Ich brach mir durch die Wellen, die längst des Verdecks Herr waren, Bahn zu dem Vordermaste und erfaßte glücklich die Strickleiter. Kaum hatte ich die ersten Stufen auf derselben erklommen, so kam eine furchtbare Welle und spülte Alle, neben welchen ich wenige Augenblicke zuvor auf der Brücke gestanden hatte, all die Männer, Frauen und Kinder, in’s Meer.

Die Fluth wuchs noch immer; jeder kommende Augenblick sendete verheerendere Wellen gegen das Schiff. Schon waren mehrere Männer an meiner Seite von den Wogen fortgerissen, und doch konnte ich auf der Leiter nicht höher kommen, denn an ihr hing bis oben Mensch an Mensch. Endlich erfaßte ich ein vom Maste herabhängendes Tau, das der Wind umher warf, schwang mich mit Hülfe desselben zu der Kette hin, welche am Maste hinausläuft, und erreichte durch Klettern den Mastkorb.

Nachdem ich aus der entsetzlichen Aufregung wieder zum Gebrauche meiner Sinne gekommen war, sah ich die ganze grauenvolle Scene mit all ihren einzelnen gräßlichen Bildern unter mir. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, einzelne dieser Bilder werden immer vor meinen Augen stehen. Da klammerten vier Frauen, mit ihren Kindern auf den Armen, sich an eine Bank fest; mit übermenschlicher Kraft kämpften sie gegen die sie überströmenden Wellen, und markerschütternd drang ihr Hülfe- und Weheschrei herauf, so oft die Welle wieder eines von ihnen fortgerissen hatte. Gewiß eine halbe Stunde dauerte dieser Todeskampf, bis eine mitleidigere Woge den Rest mit sich nahm. – Fast noch entsetzlicher war der Nothschrei eines Mannes, der mit einem Beine unter die Ankerkette gekommen war und, von den Wellen hin- und hergerissen und überfluthet, sich nicht selbst aus seiner verlorenen Lage befreien konnte. Niemand, der nicht sofort in die See geschwemmt sein wollte, konnte ihm helfen. So ward sein Schreien zum Jammern, bis er, nach einer halben Stunde, auch still geworden war.

Das Schiff war nun wie ausgestorben. Alle, welche des Capitains Weisung in die Kajüten gefolgt waren, hatten längst ihr nasses Grab gefunden. Der Capitain selbst stand zu dieser Zeit auf der Brücke, neben ihm der Quartiermeister und unweit von Beiden an der Ecke ein Mann, den ich nicht genau erkennen konnte. Welle um Welle stürmte über sie hin, und dennoch hielt die Todesangst sie am Geländer fest. Schon waren dem Capitain die Beinkleider vom Leibe gerissen, und immer noch tauchten nach jedem Wogengange die drei Männer wieder auf. Endlich traf den Quartiermeister das Abschiedsloos. Von einer Welle gepackt, verlor er den Standpunkt, rang zwar mit den Wogen so glücklich und schwamm so gut, daß er sich zur Brücke zurückarbeitete, aber in demselben Augenblicke, wo er festen Fuß fassen und sich aufrichten wollte, kam eine zweite Welle und schleuderte ihn in’s Meer.

Gleich darauf wurde der Capitain vom Geländer losgerissen. Es gelang ihm wohl, ein Tau zu erfassen, das, wenn ich nicht irre, von einem Maste zum andern läuft; an diesem hing er bald in der Luft, bald von den Wogen überfluthet, aber nicht lange: noch ein Wogenschlag und auch er war verschwunden, und mit ihm zugleich der dritte und letzte Mann auf der Brücke. Jetzt war in der Tiefe Alles todt; das einzige Leben des Schiffes war nur noch an und bei den Masten zu finden.

Eine Stunde – und welche Stunde! – mochte mir so vergangen sein, da bemerkten wir zwischen Himmel und Meer Schwebenden ein Licht, welches immer größer zu werden oder sich uns zu nähern schien. Allen ging da neue Lebenshoffnung auf; Alle glaubten ein herannahendes Schiff zu sehen. Es war Täuschung. Wir sahen nur den Leuchtthurm von Bishop’s Rock. – Da stand ich nun, den einen Fuß auf dem Mastkorb, den andern auf dem schiefliegenden Mast, jeden Augenblick vom Tode bedroht, denn die Wellen schlugen so hoch, daß ich oft den Halt der Füße verlor und, mich an dem Tau festhaltend, wie eine Fahne in der Luft schwebte. Es gehörte das Anspannen aller Geisteskraft dazu, keinen Augenblick den Körper zu vergessen, und ein eiserner Wille, die heranschleichende Schwäche zu besiegen. Die Ermattung forderte schon viele Opfer; fast jede mächtigere Woge riß einen oder mehrere der an den Strickleitern Festgeklammerten mit fort. Dieses Loos traf jetzt auch den „Obersteward“ des Schiffes, der sich, wie es mir schien, mit seiner Frau zusammengebunden hatte.

Endlich graute der Morgen. Da lag der Leuchtthurm vor uns und rings um uns her ragten die Klippen aus dem Wasser hervor. Wohl glaubten wir jetzt die Rettung uns wieder näher, aber auch die Todesgefahr wuchs von Minute zu Minute: die Masten legten sich immer mehr auf die Seite, und mit dem Falle derselben war unser Todesurtheil besiegelt. Vom Deck war längst nichts mehr zu sehen, seit zwei Uhr stand die See fünfzehn Fuß hoch darüber.

Da ertönte plötzlich ein furchtbarer Angstschrei: der hintere Mast war gefallen und mit allein, was sich an ihm gerettet hatte, augenblicklich untergegangen. – Und darnach wieder tiefste schauerlichste Ruhe – und wieder neue Hoffnung! Zwei kleine Fahrzeuge kommen heran, Fischerboote von den Scilly-Inseln, zu denen auch unsere Strandungsklippen gehören. Nur Minuten vorher das Unglück des Hintermastes und der Weheruf, – und Keiner der noch Uebriggebliebenen kann sich’s versagen, jetzt in den Freudenruf einzustimmen, der zu den Fischerbooten hinübergesendet wurde. Und doch war auch diese Hoffnung vergeblich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_460.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)