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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

gewesen. Die beiden Schiffchen kamen gar nicht in unsere Nähe; von den mit dem Hintermast in See Gestürzten mußten noch Manche sich durch Schwimmen und Schwimmgürtel über dem Wasser erhalten haben; mit diesen füllten die Fischer ihre kleinen Boote und waren bald unserm Gesichtskreis wieder entschwunden.

Jetzt kam’s auch an mich. Ein starker Windstoß, welcher sich in die gelösten Segel legte, trieb plötzlich unsern Mast nach der Seite, ich verlor den Halt und stürzte in die See. Ich muß sehr tief unter Wasser gewesen sein, denn es dauerte geraume Zeit, bis ich wieder an die Oberfläche kam. In demselben Augenblick sah ich noch die Spitze unseres Mastes im Meer verschwinden. Es mochte sieben Uhr des Morgens sein.

Rings um mich her kämpfte noch eine große Anzahl meiner Leidensgefährten mit dem Elemente um das Leben – Jedes für sich. Aber ehe ich mich’s versah, hatte eine Welle mich weit von ihnen hinweggetragen. Mein Rettungsgürtel bewährte sich als vortrefflich, aber wenn er mich auch über Wasser erhielt, so konnte ich doch, so oft die Wellen über mir zusammenschlugen, den Athem nicht lange genug anhalten, bis der Kopf wieder frei war. Während ich so herumtrieb, stieß ich an einen andern Leidensgefährten, aber der war schon todt. Dennoch erfaßte ich ihn und hielt mich an ihm fest. Wohin ist die Scheu des Lebenden in der Todesnoth! Wohl eine halbe Stunde schwamm ich mit dem Leichnam herum und ließ ihn erst los, als ich Aussicht hatte, einen besseren Stützpunkt zu finden. Ein Matrose kam mit einem Thür- oder Fensterrahmen dahergeschwommen, als ich aber ebenfalls Gebrauch davon machen wollte, verwehrte er mir dies, weil das Holzstück nicht stark genug für zwei Mann sei.

Beim Abwenden von diesem vergeblichen Versuche sah ich vor mir ein langes Brett schwimmen, erreichte und erfaßte es, legte meine todtmüden Arme auf dasselbe und ließ die Wellen mit mir spielen. Aber auch dies blieb nicht lange gefahrlos: die Ruhe durfte nicht den Schein der Leblosigkeit annehmen, wenn sie nicht die Gier der Raubvogel auf sich ziehen wollte. Ich gerieth in wirkliche Furcht vor diesen großen Seevögeln, die häßlich kreischend und pfeifend so nahe an mich heran und an mir vorüberflogen, daß ich den Wind von ihrem Flügelschlage im Gesichte fühlen konnte. Mein Geschrei bei ihrer Annäherung verscheuchte sie wohl, aber schon nach kurzer Zeit kehrten sie immer wieder zurück.

Die Schwäche erreichte endlich auch bei mir ihr höchstes Maß. Zuerst fühlte ich meine Beine, leblos werden; ich versuchte sie aneinander zu reiben, aber das konnte ich nicht mehr. Dann kam die Kraftlosigkeit auch in die Arme; ich mußte sie vom Brette herablassen. Und nun verließ mich die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, trugen zwei Männer mich eine Straße entlang. Es waren zwei Fischer, die mich in ihr Boot gehoben hatten. Ich befand mich auf St. Mary, der größten der Scilly-Inseln, wo alle Ueberlebende dieser ‚Schiller‘-Fahrt die beste Pflege gefunden haben.“


Hiermit schließt unser Schellenberg. Seine Erzählung trägt durchaus den Stempel der Wahrheit; es ist deshalb von Wichtigkeit, daß sie in mehreren von der Hamburger „Rheder-Presse“ bestrittenen Dingen genau mit dem Berichte des Herrn Ludwig Niederer in Ellwangen übereinstimmt. Namentlich hat auch unser Gewährsmann sich überzeugt von der Verwahrlosung der großen Boote und der Kanone; er fügt noch hinzu, daß mit der beliebten Ueberschmierung, die diesen bis zur Unbrauchbarmachung zu Theil geworden, auch die Thür zu einem Rettungsgürtel-Behälter nicht verschont geblieben sei. Auch er giebt an, und zwar ziemlich uhrgenau, daß anderthalb Stunden lang das Schiff ruhig lag, keine Welle auf das Deck schlug, folglich auch die See verhältnißmäßig ruhig war, daß aber diese Zeit nicht zur Rettung so vieler Menschenleben benutzt wurde. Ebenso berichtet Herr Niederer, daß zu den einzigen praktikablen zwei kleinen Booten sich die Mannschaft „rücksichtslos vorgedrängt“ habe. Da uns noch keine Widerlegung der Angaben des Herrn Niederer vor Augen gekommen ist, sie aber zur Vervollständigung des Unglücksbildes wesentlich gehören, so theilen wir sie mit, ohne jedoch die Vertretung derselben zu übernehmen und natürlich zu jeder Berichtigung von kompetenter Seite bereit. Das ist auch der Fall mit dem, was er von Hamburg erzählt. Dort machte er, als einer der so wenigen geretteten Passagiere des Schiffs, noch die Erfahrung, daß die Schiffahrtsgesellschaft ihm eine Unterstützung versagte, weil er gegen ihr Interesse gesprochen habe; Herr Niederer verlangte jedoch nur das Fahrgeld von Hamburg nach München zurück, das er in New-York vorausbezahlt hatte.

Einem deutschen Correspondenten in London hat sich noch eine andere sehr ernste Betrachtung aufgedrängt. Er sagt: „Der ‚Schiller‘ hatte sicherlich die besten Admiralitätskarten des Canals an Bord; das Fahrwasser um die Retarrier-Felsengruppe (die Klippenreihe bei den Scilly-Inseln, auf welcher der Dampfer auffuhr) beträgt bis auf anderthalb Meilen von derselben siebenundvierzig Faden (à sechs Fuß); von dieser Entfernung ab verringert


Das projectirte Wilhelm-Denkmal in Schmalkalden.
Nach einer Photographie.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_461.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)