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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


möglichst gewinnendem Tone: ‚Gestatten Sie nur, meine Gute, Sie bis an Ihre Wohnung zu begleiten! Sie sind alt, schwach und könnten noch anderweitige Gefahr laufen. Erzählen Sie mir einiges aus Ihrem Leben! Vielleicht kann ich mich Ihnen nützlich machen. Jedenfalls will ich, da ich gern bereit bin, zu helfen, und dies mir auch meine Mittel gestatten, versuchen, nach Kräften Ihr trauriges Geschick zu mildern.‘

Es war diese von mir ausgesprochene Bereitwilligkeit und die Darlegung meiner Verhältnisse einer fremden Person gegenüber eigentlich ein wenig voreilig, besonders auf dem weltstädtischen Boden Berlins, indeß diese Bettlerin hatte nun einmal etwas Anziehendes für mich, und ihr zurückhaltendes, von Bildung zeugendes Benehmen ließ mich annehmen, daß ich es mit einer ‚verschämten‘ Armen zu thun hatte.

‚Sie sind mehr als gütig, mein Herr,‘ sagte die alte Frau nach einer Pause, während welcher sie sich die Augen getrocknet hatte; ‚aber ich würde allzu unbescheiden sein, wenn ich Ihre Begleitung annähme. Ich wohne im entlegensten und ärmlichsten Theil dieser glänzenden Stadt, die in ihrem Weichbild viel Glück, aber auch unsäglich viel Leid birgt. Ein eleganter Herr hat in jenen Quartieren der Noth und zuweilen des – Verbrechens nichts zu suchen, besonders zur Nachtzeit, wie jetzt. Es könnte Ihnen beim Heimkehren Gefahr drohen – ich würde nicht ruhig schlafen können. Nein, nein, ich nehme das nicht an.‘

In ihren Worten lag so viel herzliche, mütterliche – möcht’ ich sagen – Sorge für mich, die mich an meine trostlose Einsamkeit in der Welt mahnte, daß die Bettlerin nichts Besseres hätte thun können, um mich zu veranlassen, bei meinem Entschlusse stehen zu bleiben.

‚Wo wohnen Sie?‘ fragte ich daher, ruhig mit ihr weiter schreitend, um ihr anzudeuten, daß ich ihren Worten kein Gehör geben wollte.

‚Draußen im Voigtlande, weit, weit draußen, in einem der letzten einsamen Häuser in der A.straße‘ – sie nannte die Nummer – ‚vier Treppen hoch,‘ entgegnete sie, noch einen schwachen Versuch machend, mich zum Stillstehen zu bewegen.

‚Vier Treppen hoch!‘ dachte ich. ‚Und dieser gebrechliche, elende Körper der armen Frau!‘

Nach langer Wanderung – denn die Entfernung von der ‚Passage‘ bis in jene entlegene Vorstadt ist eine beträchtliche – erreichten wir endlich das Ziel.

Die alte Frau schien äußerst angestrengt von dem weiten Wege. Sie hatte bis jetzt nur wenig gesprochen, da häufige Hustenanfälle und knapper Athem sie andauernd belästigten, aber ich schien nur doch ihr Vertrauen gewonnen zu haben, denn sie bat mich, nun ihr Zimmer zu betreten.

Das Haus, in welchem die Frau wohnte, war eine jener zahlreichen Speculationsbauten, wie sie die letzten Jahre pilzähnlich schnell entstehen ließen – unfertig noch, weil dem Bauherrn mit dem raschen Sinken der Course auch seine Baarmittel ausgegangen waren. Nun bevölkerten die unwohnlichen Räume sogenannte ‚Trockenwohner‘, das heißt Leute, deren Mittel ihnen nicht gestatteten, eine Wohnung zu bezahlen, und die von manchen Hauswirthen gratis eingenommen wurden, um dem Hause einen einigermaßen wohnlichen Anstrich zu geben, oft aber auch aus anderen noch weniger reellen Gründen.

Mit Mühe erklomm meine Begleiterin die Treppen. Oft mußte sie, schwer athmend, im Steigen innehalten. Das Haus war augenscheinlich nur schwach bewohnt, denn mehrere Thüren, welche in die verschiedenen Wohnungen führten, standen weit offen und gestatteten einen Blick in öde Räume.

Es fehlte an jeder Treppenbeleuchtung, wenngleich ein schwacher Lichtschimmer durch das Fenster hereindrang. Ich zog meine Hauslaterne, welche ich gewöhnlich bei mir zu tragen pflege, hervor und zündete das Wachslicht an. Inzwischen hatte die alte Frau eine Thür geöffnet, welche in einen sehr beengten, einem Taubenschlage ähnlichen Raum führte. Ein Strohlager, ein Tischchen und ein wackeliger Schemel bildeten die armselige Ausstattung. Ein Ofen war nicht vorhanden, und es durchschauerte mich eisig, als ich den dumpfigen, nach frischer Tünche riechenden Raum betrat. Wie wird das werden, wenn Eis und Schneesturm an die Fenster schlagen!

Ich setzte mein Licht auf den Tisch, während die Bettlerin den Schleier ablegte, den Schirm aber, ihrer schmerzenden Augen wegen, wie sie sagte, nicht entfernte. Der Theil ihres Gesichtes, welcher sich mir nun zeigte, war, wenn auch runzelig, doch zart, fein und wohlgebildet. Weiße vornehme Locken schauten aus einer schwarzen Haube hervor. Um die feinen Lippen zuckte ein bitteres Lächeln.

‚Das hier, mein Herr, ist die Residenz der Frau von Saremba, geborenen von Biedefeld,‘ sagte sie dann. ‚Nicht wahr, tönende Namen, aber doch nur ein – leerer Schall. Wie gern gäb’ ich all den Namenswust für ein Stückchen Brodes dahin!‘

‚Aber leben Ihnen denn keine Verwandte, hier oder anderswo?‘ fragte ich erstaunt, unwillkürlich der Dame eine tiefe Verbeugung machend. ‚Mein Name ist Bruno von Persin.‘

‚Ah,‘ rief sie lebhaft, ‚der Name ist mir nicht unbekannt. Irre ich nicht, so hat eine Saremba einen Persin geheirathet – aber Kopf und Sinn wird schwach durch Alter und Leid – nun, ich werde mich wohl noch darauf besinnen; am Ende sind wir gar noch verwandt. Das wäre ein sonderbarer Zufall.‘

Sie sagte das in jenem nachdenklichen, grübelnden Tone, wie er alten Leuten, die vergangene Zeiten sich zurückrufen wollen, eigen ist.

‚Aber da sollte es Ihnen doch nicht an Hülfe fehlen. Die Sarembas sind bemittelt. Freilich glaub’ ich kaum, daß noch ein Träger des Namens Persin, außer mir, in der Welt ist.‘

‚Aber ich stehe ihnen fern, das heißt den Sarembas und Biedefelds. ‚Warum?‘ werden Sie fragen. Nun, das Ihnen genau zu erzählen, würde viel Zeit in Anspruch nehmen, vielleicht thu’ ich’s einmal gelegentlich.‘ Es lag in ihren Worten eine feine Abweisung, von ihren Familienangelegenheiten zu sprechen.

‚Nun, jedenfalls hab’ ich als Ihr Anverwandter das Recht, Ihnen beizustehen, gnädige Frau –‘

‚O, ich möchte Sie dringend bitten, auf meine Vermuthung in dieser Beziehung nicht viel zu geben. Wie gesagt, ich kann mich irren – es geht mir da so viel durch meinen armen Kopf, daß ich oft dies und das verwechsele; auf keinen Fall, Herr von Persin, dürfen Sie glauben, daß ich aus einer möglichen Verwandtschaft zwischen uns für mich einen Vortheil ziehen wollte, nein, Sie werden das auch nicht annehmen.‘ Sie sagte die letzten Worte mit einer stolzen Geberde. ‚Uebrigens,‘ fuhr sie dann fort, ‚lebt die Familie, das heißt die der Sarembas, in Oesterreich oder Süddeutschland – mir fern. Ich suche sie nicht mehr, auch die Biedefelds nicht, und sie mich nicht. Arme Verwandte fallen der Mißachtung anheim. Ich hatte einiges Vermögen. Ein kleiner Theil – es sind fünfzig Thaler – ist mir noch geblieben. Ich bewahre ihn für meine Tochter, für mein heißgeliebtes, einziges Kind auf. Ach, und ich mußte sie von mir geben. Sie ist in einer Provinzialstadt Verkäuferin in – in einem Weißwaarengeschäfte – denken Sie, Baron, eine Saremba! Aber es mußte sein; sie konnte das Elend hier nicht länger mit ansehen. Mit blutigen Thränen riß sie sich von mir, gab ich sie dahin. Ihr Verdienst ist gering, aber sie giebt mir, was sie geben kann. Auch erhalte ich kleine Beihülfen von den mildthätigen Damen unseres Bezirks, aber mein Herr, Alles wird theurer, es reicht nicht aus, und ich will die freundlichen Geber nicht noch weiterhin in Anspruch nehmen, nicht meinem Kinde das schwer verdiente Geld entziehen. Da faßte ich eines Tages den Muth und trat in Gottes Namen hinaus in die dunkle Nacht und flehte mit schwerem Herzen und bangem Zagen die Barmherzigkeit der Vorübergehenden an. Mancher stieß meine zitternde Hand rauh zurück. Ihm sei vergeben! Mancher füllte sie mitleidigen Herzens. Ihm sei Gottes Lohn! Heut’ zum ersten Male nahete mir Gefahr. Ich hatte nicht gewußt, daß die Gesetze es verbieten, mit schwerbedrücktem Herzen hülfeflehend sich an unsere Mitmenschen zu wenden. Da retteten Sie mich, Herr Baron – o, wie danke ich Ihnen dafür!‘

„Mir drangen,“ fuhr der Erzähler nach einer kurzen Pause fort, „diese Worte der alten Dame tief in’s Herz. Ich bat sie herzlich, meine Hülfe auch fernerhin anzunehmen. Oft wandelte ich hinaus nach der A.straße, bisweilen fand ich das Zimmer verschlossen. Manchmal war die gute Frau, die ich schon herzlich liebgewonnen hatte, daheim, und sie empfing mich dann mit großer Freude und innigen Dankesworten. Und ich – ich fühlte mich hochbeglückt in dem Bewußtsein, ein Herz gefunden zu haben, dem ich meine herzliche Theilnahme weihen durfte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_498.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)