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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Jetzt wird der zu Operirende durch Einathmung der Chloroformdämpfe dem tragischen Acte auf kurze Zeit entrückt, und es wird die Aufhebung des Schmerzes nicht nur zu einer augenblicklichen Wohlthat für den Patienten, sondern ganz vorzüglich zu einem großen Gewinn für den operirenden Arzt. War die subjective Berücksichtigung des zu Operirenden sonst die erste Pflicht für den Chirurgen, so ist demselben jetzt durch die objective Ruhe, mit welcher er an sein heilspendendes Werk herantreten kann, ein auch für den Kranken unberechenbarer Vortheil geboten.

Laut- und empfindungslos liegt der freiwillig aus dem Kreise der Empfindenden Herausgetretene mit geschlossenen Augen vor dem Arzte da; ruhig und gemessen vollendet dieser seine verantwortungsvolle Thätigkeit. Analog den Wirkungen des Chloroform und die Einflüsse des eingeathmeten Schwefeläthers auf den menschlichen Organismus. Der berühmte Chirurg Dieffenbach, welcher die von ihm zu Operirenden mit Aetherdünsten betäubte, beschreibt diesen Rausch ganz ähnlich, wie heute der Chloroformrausch geschildert wird: „Während mancher Aetherisirte wie ein sanft Schlummernder hinsinkt und sein in rasche Schwingungen versetztes Gehirnleben sich in mannigfaltigen Phantasien abspiegelt, gerathen Andere in excentrische Aufregungen; dabei entströmen Worte des Entzückens ihrem Munde, in grellem Contraste zu dem Messer, das in ihr Fleisch sich einsenkt und zur Säge, die ihre Knochen durchknarrt. Jene Excentrizität äußert sich bei Manchen in so wilder Weise, daß sie, die sonst im Leben sanft und mild, plötzlich unter der Wirkung des Chloroforms wie Rasende sich benehmen. Im Zustande einer solchen Aufregung wähnt sich ein solcher unter Räubern und Mördern; seinem Munde entströmen die bittersten Verwünschungen; er schmettert mit Faustschlägen Alles zu Boden. Andere geberden sich wie vollkommene Narren. Derselbe Mensch, den wir mit tief ergebenem Ausdrucke seinem ernsten Geschicke entgegengehen sahen, wird in einigen Minuten zum Possenreißer umgeschaffen, grinst, lacht und treibt seine Narrenstückchen, bis er in das Stadium der Betäubung zurücksinkt.“

Das Chloroform wird gewöhnlich auf ein Tuch oder ein umsponnenes halbkugelförmiges Drahtnetz gegossen und in der Nähe von Mund und Nase dem Patienten zur Einathmung dargereicht; es ist dafür Sorge zu tragen, daß eine gehörige Menge atmosphärischer Luft, zur ungestörten Function der Lungen, den Chloroformdämpfen beigemengt sei. Die Gefahren bei Anwendung des Chloroforms bestehen vornehmlich in dem ungenügenden Zutritte des Sauerstoffgases, weshalb das Mittel in der Hand Ungeübter zu dem gefährlichsten Gift werden kann. Schon das Einathmen von vierzig bis fünfzig Tropfen reicht manchmal hin, einen Erwachsenen in wenigen Minuten völlig empfindungs- und bewußtlos zu machen. Unmittelbar nach den ersten Athemzügen stellt sich ein leichter Hustenreiz ein, welcher durch die Willenskraft leicht besiegt wird und bei fortgesetztem Einathmen von selbst aufhört. Alsbald erschlaffen sämmtliche äußeren Muskeln; der Kopf sinkt auf die Brust; die Arme fallen herab; die Beine gleiten vorwärts; das Athmen ist tief und ruhig, der Herzschlag oft kaum fühlbar. Mit Zunahme der Betäubung schwindet ein Sinn nach dem anderen. Das Gefühl hört zuerst auf, während alle übrigen Sinne noch thätig sind. Dann erlischt der Geschmack – man empfindet und unterscheidet die Geschmackseindrücke nicht mehr –, dann das Gesicht und darauf der Geruch, während das Gehör noch thätig ist. Endlich schwindet auch dieser Sinn, bis völlige Betäubung eintritt. Mit dem Nachlaß der Chloroformwirkung nach Verlauf mehrerer Minuten, oder in einer unverhältnißmäßig langen Zeit, kehren die Sinne in umgekehrter Reihe einer nach dem andern zurück. „Kindern erschienen die liebenden Eltern als verklärte Gestalten, liebende Mütter sahen das Gewand ihrer Kinder in blendender Weiße prangen. Selbst der Unkundige in der Musik wird in wonnigem Selbstgefühl zum Componisten, der Furchtsame zum Helden, der Diener zum großen Herrn.“ Der Chloroformrausch hat eine merkwürdige Aehnlichkeit mit dem Zustande der Opium- und Haschischbetäubung. Wie jene Gewohnheitsathmer des Orients sich in ihrem Wahne auf Adlerschwingen zu einem schimmernden Goldmeere erheben und gewichtslos in einem weiten Raume sich schwebend fühlen, ähnlich schwelgt der Chloroformirte in den Genüssen höherer Sphären.

Das Chloroform war im Jahre 1831 von Soubeiran zum ersten Male dargestellt worden; es entsteht häufig bei der Einwirkung des Chlorgases auf organische Körper, bei der Destillation des Weingeistes, sowie anderer organischer Stoffe mit Chlorkalk. In reichlicher Menge erhält man das angenehm riechende, süß schmeckende Medicament durch Destillation von vier Theilen Weingeist, drei Theilen Wasser und einem Theile Chlorkalk, wobei mit den sich entwickelnden Wasserdämpfen eine schwere Flüssigkeit übergeht, die, mit concentrirter Schwefelsäure gereinigt, das Chloroform darstellt.

Sechzehn Jahre vergingen, bis der berühmte Chirurg Professor Simpson die Wirkung des Chloroforms auf den Menschen entdeckte und der medicinisch-chirurgischen Gesellschaft zu Edinburg mittheilte, daß das genannte Mittel, durch die Lungen eingeathmet, eine jeder Schmerzempfindung bare Bewußtlosigkeit zu erzeugen im Stande sei. Dieses Schwinden des Bewußtseins beruht auf einer Lahmlegung gewisser zentraler Nervenorgane in unserem Gehirne, welche im normalen Zustande die Lebensthätigkeiten des Empfindens einerseits und der Bewegung andererseits vermitteln. Durch die Lungen werden die Chloroformdämpfe eingeathmet und in den feinen Lungenbläschen, welche von Tausenden mikroskopisch kleiner, fabelhaft dünnwandiger Blutäderchen umsponnen sind, direct dem Blute zugeführt; das auf diesem Wege mit Chloroform durchsetzte Blut gelangt von den Lungen in das Herz und wird mit jedem Herzstoß von hier aus in die entlegensten Theile des menschlichen Körpers übergeführt.

Wie die feinsten Blutaderströmchen die Lungenbläschen umspülen, ebenso umgeben sie im Gehirne die feinsten Empfindungsorgane, die sogenannten Ganglienzellen, mikroskopisch rundliche Gebilde, welche mit je drei bis fünf feinen fädigen Ausläufern mit den Gehirnnervenfasern und durch diese wiederum mit den Körpernerven zusammenhängen. Millionen solcher dem unbewaffneten Auge unsichtbarer Gewebe sind im Gehirne in verschiedenartigster Anordnung angesammelt; sie sind die eigentlichen Träger und Regenten des menschlichen Lebens, von ihnen geht durch die telegraphendrahtartige Vermittelung des Nervensystems jede Thätigkeit der körperlichen und geistigen Bewegung aus, zu ihnen wird auf demselben Wege jeglicher Eindruck von außen zurückgeleitet, jedes Gefühl von Freude, jede Empfindung von Schmerz. Werden nun diese Organe von dem sie ernährenden Blutstrome, der Chloroform enthält, berührt, so erliegen sie, so lange das Chloroform auf sie wirkt, das heißt so lange durch die Lungen genügende Mengen dem Blute zugeführt werden, den betäubenden Wirkungen dieses Mittels, und da von jenen winzigen Organen alle willkürlichen Lebensthätigkeiten und Empfindungen des menschlichen Körpers abhängen, so hört auch indirect die Thätigkeit aller dieser Organe während jener betäubenden Wirksamkeit auf.

Wir sagten soeben: alle willkürlichen Lebens- und Empfindungsorgane. Das hat seinen triftigen Grund. Es giebt bekanntlich im menschlichen Körper Bewegungen, die wir unwillkürlich nennen, so z. B. die Athmung, den Herzschlag, die zur Verdauung nöthigen Bewegungen des Magens und Darmcanals etc. Diese Thätigkeiten werden von einer Reihe von centralen Gangliensystemen in unserem Gehirne regiert, welche der Wirkung des Chloroforms länger widerstehen, als die oben angeführten Bewegungs- und Empfindungsganglien. Man weiß durch Versuche an Thieren, sowie durch die Erfahrung an chloroformirten Menschen, daß die den unwillkürlichen Bewegungen des Organismus vorstehenden Gangliengruppen von allen Betäubungsmitteln sehr wenig und erst sehr spät beeinflußt werden, und daß demzufolge die Bewegungen der Athmungsorgane, des Herzens und der übrigen Eingeweide auch in tiefer Chloroformnarkose normal von Statten gehen können; sollte in der Athmung und dem Herzschlage eine merkliche plötzliche Verlangsamung beobachtet werden, so ist sofort mit dem Chloroformiren auszusetzen und im Nothfalle die künstliche Athmung einzuleiten. Bei gewissenhafter Beobachtung des Pulsschlages und der Athembewegungen gehören indeß Gefahren bei Anwendung des Chloroforms zu den größten Seltenheiten, und der Chloroformtod ist trotz der hunderttausendfachen Anwendung des Mittels seit 1847 vornehmlich bei Personen, welche an organischen Herzfehlern oder sonstigen die normale Blutcirculation hindernden Uebeln gelitten haben, beobachtet worden. Ungefähr zweihundertfünfzig derartige Todesfälle sind in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_558.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)