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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


ganzen medicinischen Literatur seit dem Jahre 1847 aufgeführt. Nach zuverlässigen Zusammenstellungen sind auf französischer Seite im orientalischen Kriege unter achtzehn- bis neunzehntausend in der Narkoseoperation nur zwei an den Folgen derselben gestorben. Bei den Engländern ist in demselben Kriege nur ein Todesfall, und in dem schleswig-holsteinischen Kriege auch nur einer bekannt geworden, während die bezügliche Statistik des amerikanischen Rebellionskrieges bei achtzigtausend Narkotisirungen nur sieben Todesfälle aufzuweisen hat. Durchschnittlich kann man nach den bis jetzt besonders in England ziemlich genau angestellten Beobachtungen die Sterblichkeit unter viertausendfünfhundert Chloroformirten auf einen Todten bestimmen, und ist das günstige Zahlenverhältniß aus dem amerikanischen Kriege dem Umstande zuzuschreiben, daß die Chloroformirten wohl alle gesunde Leute gewesen sind.

Man wird nun fragen: was bedeutet die Ueberschrift, die diesen Mittheilungen vorangestellt ist, „Durch Chloroform in’s Irrenhaus“? Wie jegliches Heilmittel seine Lichtseite hat und in dem mäßigen Gebrauche der ärztlichen Verordnung das Heil für den Patienten liegt, ebenso finden sich, besonders bei übermäßigem Gebrauche mancher Heilmittel, Schattenseiten ein, von denen selbst mit den Wirkungen sonst vertraute Berufsmänner keine Ahnung hatten.

Der wunderbare Rausch und die entzückende Traumwelt, die sich dem Betäubten erschließt, haben etwas Verführerisches für einen empfindsamen Zuschauer und manche Fälle sind bekannt, in welchen vornehmlich Studirende der Medicin durch Chloroformeinathmungen in den oben geschilderten Sinnentaumel sich freiwillig gestürzt haben. Welch schlimme Folgen der übermäßige Gebrauch des Chloroforms nach sich ziehen kann, möge folgende aus dem Leben gegriffene tragische Geschichte beweisen.

Es war an einem heißen Julinachmittage des Jahres 1874, als ein fremder Herr mir gemeldet wurde, der behauptete, ein intimer Freund meines Hauses zu sein. Ich begab mich auf den Corridor meiner Wohnung, wo mir ein untersetzter Mann, die Hand freudig ausstreckend, entgegen trat. Mit dem Ausrufe: „Alter Freund, kennst Du mich nicht mehr?“ machte er den Versuch, mich zärtlich zu umarmen. Ich trat einige Schritte zurück, musterte im Flug den Mann vom Kopf bis zur Zehe und konnte mich in keinerlei Weise dieses „alten Bekannten“ entsinnen. Die Kleidung des Fremden, sowie dessen Linnenzeug hatten sicher bessere Zeiten gesehen. Er trug einen grauen abgetragenen Sommerrock, welcher am Ellenbogen seinem Hemde gestattete, einen kecken Blick in die Welt zu thun; eine schmutzig-blaue, breite seidene Halsbinde bedeckte einen Theil des zerknitterten Vorhemdes; die schwarze Weste hing schlotterig um die Brust, und eine angerostete stählerne Uhrkette, die das abgetragene Kleidungsstück herunterzog, vervollständigte die Erscheinung dieses Jammerbildes.

Auf die Bemerkung, daß ich mich seiner zu meinem großen Bedauern nicht erinnern könne, lächelte er verschmitzt, klopfte mir vertraulich auf die Schulter, meinte, ich spaße, und stellte sich mir als meinen alten Heidelberger Studiengenossen K… vor. Wenn auch das Bild jenes blühenden Jünglings aus der alten Heidelberger Zeit mir in das Gedächtniß zurückkehrte, so kostete es mich doch einige Mühe, die Züge des vor mir stehenden Fremden mit jenem in meiner Erinnerung befindlichen Jugendbilde in Einklang zu bringen. Bei scharfer Musterung entdeckte ich die Aehnlichkeit, welche mich veranlaßte, seinen Worten Glauben zu schenken.

Ich konnte es mir nicht versagen, ihn sofort zum Mittagsmahle einzuladen, was er auch mit freudiger Miene annahm. Bei Tische erzählte er mir, er sei Assistent bei dem berühmten Professor B… gewesen, der damals in X…, jetzt in Wien, durch seine epochemachenden Vorträge seine Zuhörer entzückt und in die Lethargie, welche sich in den jüngsten Jahren der einst so berühmt gewesene Wiener medicinischen Schule bemächtigte, neues Leben gebracht hat.

Wir sprachen über die Leistungen dieses trefflichen Mannes, und eben hatten wir das Schlürfen der würzigen Suppe beendigt – wir sind bei dieser Thätigkeit auch rasch im Herzen recht warm geworden – als ich ganz harmlos meinen Freund fragte: „Sag’ einmal, Alter, wo kommst Du denn eigentlich in diesem Aufzuge her?“ Er beugte sich gemüthlich zu mir herüber und bemerkte, als ob das ganz selbstverständlich wäre, in ruhigem, gemessenem Tone: „Ich bin vor drei Wochen aus dem Irrenhause entsprungen.“ Kaum war dieses Wort seinen Lippen entschlüpft, als meine sonst sehr herzhafte Ehehälfte mit einem Rufe des Entsetzens von ihrem Stuhle sich erhob und mit Blitzesschnelle in das entlegenste Zimmer der Wohnung enteilte. Ich selbst war im ersten Momente wie versteinert und fixirte mit scharfem Blicke meinen Gast, aus dessen Pupille nicht Verwunderung und Aufregung, sondern Ruhe und Milde meinem Auge begegneten. Mit spöttischem Lächeln mir auf die Schulter klopfend, bemerkte er: „Freundchen, glaube nicht, daß, wenn ich auch aus dem Irrenhause entsprungen, ich wahnsinnig gewesen sei; ich werde Dir mit Ruhe meine Geschichte erzählen und den Knoten der Verwickelungen, welche mich in das Irrenhaus gebracht haben, vor Dir entwirren. Bei den vielen chirurgischen Operationen, die Professor B. unter meiner Assistenz ausführte, hatte ich fast täglich Gelegenheit, die Wirkungen der Chloroform-Narkose aus nächster Nähe zu beobachten. Die Bereitwilligkeit und die Hast, mit welcher alle Leidenden ohne Ausnahme das süße Gift fortathmen, sobald sie den ersten Zug in ihre Lungen aufgenommen, der wunderbare Taumel, in welchen sie weltvergessend dahinsinken, boten mir Veranlassung auch mich den Einwirkungen der Chloroform-Narkose mit Eifer hinzugeben. Da ich aus allen meinen bezüglichen Beobachtungen geschlossen hatte, daß das höher gestimmte Gehirnleben, insoweit es die Quelle unseres Seelenlebens ist, sich in den mannigfaltigsten Nüancen in Gedanke und Wort, in Phantasie und Empfindung abspiegelt, wollte ich an mir selbst Studien machen, und ich habe mit glänzendem Erfolge das mir gesteckte Ziel erreicht und den höchsten Zweck, den Genuß des Lebens in höheren Regionen gefunden.“ –

Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte ich dieser merkwürdigen Erzählung meines Gastes zu und ermunterte ihn zur Fortsetzung seiner Mittheilungen, obgleich ich in der Art, wie er schon bei Beginn der Erzählung sich ereiferte und seinen Gegenstand in eigenthümlich verzückter Weise verfolgte, einen Grund hätte finden sollen, ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Allein ich hoffte, allmählich einen tieferen Einblick in sein Seelenleben zu gewinnen. Er fuhr nun in seiner Schilderung eifrig fort, indem er mir erzählte, daß die Wirkung der eingeathmeten Dämpfe in einer Reihe der wunderbarsten Erscheinungen gipfelte.

„Gewöhnlich wurden mir,“ so erzählte er weiter, „anfangs die Augenlider schwer, und ich fühlte das Bedürfniß, zu schlafen. Wenn ich erwachte, so blieb mir das Gefühl einer unendlich lang durchlebten Zeit zurück, und da ich vergeblich in Gedanken nach der vergangenen Traumwelt, die mir den reichsten Quell des Lebens zu umfassen schien, haschte, so versuchte ich stets von Neuem durch wiederholte Einathmung mich in die früheren Visionen zu versenken. Mein inneres Auge erblickte die glänzendste Farbenpracht, und bei dem äußeren Schlafe des Ohrs schwelgte ich in den entzückendsten Tönen; es störte kein verworrenes Bild mich Glücklichen. Im Gefühle des gänzlichen Entkörpertseins wähnte ich mich in himmlischer Unendlichkeit. Es wurde mir klar, was mir in meiner beruflichen Thätigkeit die Chloroformirten verschiedener Charaktere und Temperamente von ihrem Chloroformrausche in so entzückender Weise erzählt hatten. Mir erschien der Chloroformrausch stets in der Gestalt des Todes. Der Mensch fürchtet den Tod nur des Sterbens wegen als etwas Entsetzliches, als etwas Qualvolles; allein die Chloroformbetäubung gab mir hierüber herrliche Aufschlüsse. Sie ist ein Sterben mit Rückkehr zu diesem Leben. In meinem Chloroformrausche spiegelten sich die verschiedenen Formen des Sterbens ab, vom sanften Einschlummern bis zum Ausdrucke des wildesten Widerstrebens, und dieses wilde Widerstreben hatte mich in’s Irrenhaus gebracht. Die Bilder des Sterbens verfolgten mich oft auch im wachen Zustande, und so trat denn schließlich die Katastrophe ein, daß ich in meiner Ueberreizung eines Tages meiner Umgebung in einer Art Wuthanfall zurief: ‚Ihr Verfluchten, Ihr Henker, Ihr Mörder!‘ In diesen Ausdrücken sah man nicht die Folge des sich von Tag zu Tage wiederholenden Chloroformrausches, sondern Wahnsinn. Man veranlaßte daher, daß mir das Recht der Praxis entzogen wurde, und das Ende davon war meine Verbringung in das Irrenhaus.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_559.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)