Seite:Die Gartenlaube (1875) 563.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Heftigkeit aus dem scheinbaren Halbschlummer in die Höhe, preßt beide Hände leidenschaftlich vor das Gesicht und ruft in bitterem Tone: „Zur Ruhe – zur Ruhe, Mama? Wie käme mir Ruhe, wenn es nicht die wäre, die ich täglich erbettele, die nicht kommen will, die mich mit ihm vereint?“

Die Mutter kniet neben ihr nieder und legt leise den Arm um sie. „Linda! als ich Deinem Wunsche nachgab, hoffte ich Anderes. Kind, liebes Kind! nicht so darf man des Lebens Schmerzen tragen. Ich meinte, die Thränen an dem Grabe vergossen, nach dem Du Dich so heiß sehntest, würden Dir Augen und Herz erlösen, damit Du endlich wieder Himmel und Erde erkennst.“

„Der Himmel, Mama? Der ist so fern! Und die Erde? Was gäbe es dort noch für mich?“

„Vielleicht keine Freuden, jedenfalls Aufgaben,“ sagte die Mutter sanft. „Du hast Dein Glück, Deine Zukunftshoffnung verloren – das ist hart, mit dem Geliebtesten darf und soll aber nicht auch das eigene Leben begraben werden. Das ist weder Gottes Wille, noch des Menschen würdig. Deinem bittern Schmerze ward Zeit gegönnt, und daß er in Dir so feste Wurzeln geschlagen, ehrt Dich vor mir. Was aber Wurzel schlug, darf kein öder Dornstrauch sein und bleiben: es muß grünen, muß Blüthe und Frucht tragen, und das, Linda, fordere ich jetzt von Dir. Was Du so ganz besessen, bleibt Dir unverloren, wenn Du dem Leben, den Deinen giebst, was nicht Dir allein gehört.“

Ein schwaches Roth huschte über des Mädchens Wange. „Du bist strenge mit mir, Mama, vielleicht hast Du Recht, wenn Du forderst, daß ich – daß ich über mich hinaus denken und etwas leisten soll. In Einem aber kannst Du mich nicht beurtheilen, weil Du mich hierin nie verstehen kannst.“

„Und was wäre dies, Linda?“

„Eben noch sagst Du: ‚Was Du so ganz besessen, bleibt Dir unverloren.‘ Und was habe ich denn besessen? Ich war Braut, glückliche Braut – auf Stunden, auf Tage drängt sich alles arme Glück zusammen, das mir geworden, das mein Leben, mein ganzes, langes Leben mit so viel tausend Stunden und Tagen hätte ausfüllen sollen. Ich durfte nicht besitzen, was mein war. Was weißt Du hiervon, Mama? Du hast meinen Vater geliebt, ja, und hast ihn verloren, aber lange Jahre glückseliger Vereinigung sind Dir zuvor geworden. Du kannst wohl sprechen: ‚Was man ganz besessen, bleibt unverloren.‘ Hättest Du Deines Herzens Liebe, Deiner einzigen, nie zu verschmerzenden Liebe entsagen müssen, ohne solch’ vereintes Leben – dann, Mama, könntest Du mich verstehen.“

Frau Delbring antwortete nicht. Sie erhob sich schweigend, und ging mit gesenktem Haupte im Zimmer auf und nieder. Ein eigenthümliches Leuchten war in ihr mildes Auge getreten; ihre Lippen bewegten sich unhörbar. Nach einigen Minuten sagte sie in ruhigem Tone: „Ich will Dir etwas erzählen, Linda, was ich nie einem Menschen zu erzählen dachte – am wenigsten Dir.“

Sie zog einen Schemel neben das Sopha und setzte sich dem jungen Mädchen zu Häupten, etwas in den Schatten. Linda erhob einen Augenblick den Kopf, welchen sie nach ihrem leidenschaftlichen Ausbruche tief in das Kissen geborgen, und blickte ihre Mutter an; das feine, klare Gesicht sah etwas blasser aus, als gewöhnlich. „Erzähle, Mama!“ sagte sie.

„Zuvor eine Frage. Du warst kaum erwachsen, als wir Deinen lieben Vater verloren, aber nach Deiner ganzen Art einsichtig genug, um mir antworten zu können. Glaubst Du – glaubst Du, daß Dein Vater glücklich gewesen ist?“

Linda stützte den rasch erhobenen Kopf mit den Armen. Ihr Blick belebte sich: „Wie so?“

„Glücklich durch mich?“ Ein leises Roth, das die zartgeschnittenen Züge der Mutter sehr verschönte, überhauchte ihr Gesicht.

„Wer könnte hierüber in Zweifel sein, Mama? War ich nicht überdies zugegen, als Dir Papa in seiner letzten Stunde für all das Glück dankte, das Du ihm stets gegeben? Ich war noch jung, als er uns verließ, aber ich war kein Kind mehr. Und ist es nicht gerade die Erinnerung an Euer harmonisches Leben, die mich so heiß empfinden läßt, was ich – verlieren mußte?“ Ihr Kopf sank schwer auf die Polster zurück.

„So laß Dir erzählen! – Du weißt, daß sich Dein Vater seine beiden Frauen aus Baiern geholt hat, und ich beklagte oft, daß Zufälligkeiten mir stets den Wunsch vereitelt, Dich nochmals in meine Heimath zu führen, welche Du nur als Kind einmal mit mir besucht hast. Ja, mein Baiern ist reich an Schönheit – wohin Du auch wandern magst, überall tritt Dir neuer Reiz entgegen, gartengleiche Landschaften, wunderbar lockendes Gebirge, blaue, lachende Seen. Ich liebte von Kind auf die Natur mit einer Innigkeit, deren Wärme manchmal belächelt wurde, wenn Preis und Lob all des Schönen, das mein Herz entzückte, gar kein Ende nehmen wollte. Und weil ich es so liebte, im Freien zu genießen, und nichts mich sicherer von trüben Gedanken befreien konnte, als ein neuer Eindruck dieser Art, schlug meine Mutter, unmittelbar nach der Hochzeit meiner einzigen Schwester, einen Ausflug nach dem Salzkammergute vor.

Ich war damals sehr niederschlagen. Das Haus und die ganze Welt erschienen mir wie ausgestorben, nachdem Dein Vater unsere geliebte Aelteste entführt hatte. Du konntest kaum eine Erinnerung an Deine wirkliche Mutter behalten, Linda – sie ging so früh von Dir, so früh, daß Du mir ihren Namen gabst, ohne Dir des Wechsels bewußt zu werden, aber Du hast von ihr erfahren; Du kennst ihr Bild und kannst Dir eine Vorstellung davon machen, welche Leere sie zurückließ. Sie war die Schönste, Wärmste, Lachendste, der ich je auf Erden begegnete; wo sie gewesen war und verschwand, schien das Sonnenlicht nicht mehr so hell zu sein, wie zuvor. Ich hatte sie über Alles geliebt und vermißte sie nun über Alles. Das Haus, welches ihre heitere Gegenwart erfüllt hatte, machte mir bange; die Alles beseelende Stimme tönte uns nicht mehr; ich durchirrte die verlassenen Räume wie ein ruheloser Geist. Deshalb machte sich meine gute Mutter mit mir auf den Weg, sobald die gewohnte häusliche Ordnung wieder hergestellt war, ohne über Zeit und Ziel unserer Reise etwas festzustellen. Es wartete ja zu Hause Niemand unserer Heimkehr, und da ich gern nach der Natur zeichnete, lockte mich hier und dort ein schöner Punkt zum Verweilen. So ließen wir uns denn auch schon am zweiten Tage unserer Tour zu einem Abstecher nach dem Chiemsee anregen, fuhren nach Prien, und wanderten dem Seeufer zu, um uns auf die Inseln hinübersetzen zu lassen.

Es war in den letzten Tagen des Mai – in einem jener seltenen Jahre, wo dieser Monat wirklich zum Wonnemond geworden. Fast ohne Unterbrechung stieg Tag um Tag eine goldene Sonne am klar blauen Himmel auf, die kein sengendes Feuer, nur segenspendende Wärme niedersandte, und eine Fülle des Werdens, Schaffens und Blühens erzeugte, wie ich mich nie erinnere, sie ähnlich geschaut zu haben. Der Flieder namentlich hing allerwärts in so schweren Trauben und Dolden und strömte so alles durchdringende Düfte aus, daß ich seine Blüthezeit seither nicht mehr von der Erinnerung an jene Tage trennen kann. Es war noch in den frühen Morgenstunden, als wir unseren Spaziergang durch frisches Grün, jung belaubte Bäume und blumengestickte Wiesen unternahmen – verzeih’, wenn ich von alledem ausführlicher spreche, als Dir wohl nöthig erscheint! Du wirst aber bald verstehen, welche Bedeutung dieser Tag für mein Leben gewann, und die heitere, freie Stimmung, in welche mich jener kurze Weg versetzte, war gleichsam die Saat alles dessen, was später aufgehen sollte.

Nachdem wir einen Schiffer gefunden, der uns zur Herreninsel bringen konnte, stießen wir fröhlich vom Ufer. Auf dem lichtgrünen See dahin zu schwimmen, die sonnenbeglänzte, von frischem Schnee leuchtende Kompenwand, das lachende Ufer mit seinen freundlichen Häusern vor dem Auge, einen vollen Tag auf den grünen Inseln in Aussicht – das erschien mir wie ein Fest. Schlief auch meine Sehnsucht nicht ein, war doch alle Traurigkeit gewichen.

Unser Schiffer hatte erst wenige Ruderschläge gethan, als wir durch einen Zuruf vom Ufer her veranlaßt wurden, dorthin zurückzublicken und einen jungen Mann eiligen Schrittes näher kommen sahen. In seiner erhobenen Hand flatterte ein Taschentuch; daß er sich mit uns in Beziehung zu setzen versuchte, war unverkennbar. Im ersten Augenblick glaubten wir einen Bekannten vermuthen zu dürfen, als er aber den Uferrand erreicht hatte, sahen wir, daß wir uns hierin getäuscht. Diese schlanke Gestalt, die den Kopf mit besonders freier Haltung trug, war uns

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_563.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)