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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


an den Ort gefesselt hatte, war gelöst, und das Betragen der so unerwartet zum Besitze gekommenen lachenden Erben war nicht darnach angethan, sie durch neue Verbindungen festzuhalten. Obwohl der Vorsteher ihnen mit Nachdruck begreiflich machte, daß sie den unerwarteten Wohlstand eigentlich nur Kuni’s günstigem Einfluß auf die Verstorbene schuldeten, fanden sie sich doch keineswegs zu besonderer Dankbarkeit verpflichtet – hatten sie doch nur, was ihnen nach ihrer Meinung ohnehin gebührte, und die reiche Base, meinten sie, habe nicht mehr als ihre Schuldigkeit gethan, wenn sie die armen Vettern nicht beraubte. Sie ließen sogar ziemlich deutlich merken, daß sie an solche unbegreifliche Uneigennützigkeit nicht glaubten und fest überzeugt wären, Kuni habe sich durch heimliche Vorwegnahme irgend einer Kostbarkeit entschädigt, welche mehr werth sei, als der ganze übrige Plunder zusammengenommen. Wie ein einfallender Ameisenschwarm drangen sie in alle Räume und Behältnisse und durchwühlten, was der Fleiß und die Sorge so vieler Jahre aufgehäuft hatten. Immer unzufrieden mit dem Gefundenen, fingen sie untereinander zu schelten, zu theilen und zu feilschen an, unbekümmert darum, daß die Spenderin alles dessen, noch kaum erkaltet, in der Kammer nebenan unter dem Leintuche auf dem Schragen lag. Mißtrauisch besah und durchblätterte der Haupterbe das mit Neugier beobachtete Gebetbuch Kuni’s, und vor Allem betrachtete er den Eisendraht mit den Korallen und verständigte sich durch Augenwinken mit seinen Genossen, daß das wohl nichts Anderes sein könne, als irgend ein Zaubermittel, wie der Erdspiegel oder der Schlüssel von Sanct Apollonia.

Kuni wartete daher eben nur den dritten Tag ab, und als die Glocken verklungen waren, die dem Basl zu Grab geläutet hatten, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie ward in ihrem Vorsatze durch die Ankunft eines Leichengastes bestärkt, der in die Stadt fuhr und mit dem sie daher bequem und sicher bis an den Anfang des Sees gelangen konnte. Wohl war sie ohne weitere Nachricht vom Schlösselhofe und wußte nicht, ob der Vater nicht doch das Fuhrwerk schicken werde, sie abzuholen, sie gedachte aber jedenfalls schon Tags vorher daheim einzutreffen und ihm die Ueberraschung des Wiedersehens zu bereiten. Dazu kam noch weiter, daß der Morgen des Begräbnißtages nach vielem Wehen und Stöbern hell und klar anbrach und daß ein leichter Frühfrost Wege und Stege wieder gehärtet hatte – es war also nicht schwer, wenn es nöthig werden sollte, ein gutes Stück Weges zu Fuße zurückzulegen.

Durch kleine Umstände, gegen die sie nichts ausrichten konnte, verzögerte sich aber die Abfahrt bis zur Mittagszeit; gleichwohl blieb Kuni bei ihrem Vorsatz; es war noch immer früh genug, um an den See und dann wenigstens nach Sanct Alban oder Diessen gelangen zu können. Nach einigen Stunden war der Scheideweg erreicht, wo sie sich von dem Gefährten trennen und auf der Landstraße ihre gesonderte Richtung einschlagen mußte. Sie schritt tapfer die breite und frostharte Bahn dahin, mitten durch lange Waldstrecken, denen das erweichende Thauwetter das winterliche Aussehen noch weniger abzustreifen vermocht hatte, als den flacheren Gegenden. Es war ein trübes Bild, das so ganz zu den Gedanken und Empfindungen stimmte, welche Kuni’s Herz und Sinn befangen hatten, so daß sie, der Umgegend nicht viel achtend, auch kaum gewahr wurde, daß mit dem herannahenden Abend das Wetter sein Aussehen abermals zu ändern begann. Grauweiße Wolkenmassen, welche wieder Schneegestöber im Schooße zu bergen schienen, sammelten sich im Süden und warteten nur des Sturmwindes, der sie als Steuermann über die Lande führen sollte. Wo eine Lichtung zwischen den Tannenwipfeln sich aufthat, zeigte ein mattes Rothgelb am Himmel, daß die Sonne sich bereits zum frühen Untergange rüste.

Der Tod der Base und wohl noch mehr, was sie aus deren Leben erfahren, hatte auf Kuni gewaltigen Eindruck gemacht – war doch in dem Ereigniß mit dem verunglückten Wildschützen und dem tiefgründigen Haß der Base gegen ihn etwas gelegen, was an die dunkle Stelle in ihrem eigenen Gemüthe erinnerte. Sie war vom tiefsten Mitleid für den Unglücklichen erfüllt und konnte die Gemüthshärte der Base nicht billigen, doch auf die Feindschaft, die sie selbst im Busen trug, übten diese Regungen nur einen sehr untergeordneten Einfluß. Ihr Fall war ja offenbar ein ganz anderer. Der Mann, den sie haßte, hatte außer der unvernünftigen Kinderzeit niemals in Beziehungen zu ihr gestanden, und ihre Abneigung gegen ihn war nur gerecht – hatte er sie nicht vor einer Unzahl Zeugen mit unerhörter Schmach bedeckt? Wenn sie auch durch ihren Schrei den Verfolgten wieder in die Hände seiner Feinde geliefert hatte, sie hatte keine Schuld daran. Es war unwillkürlich geschehen beim vermeintlichen Anblick ihres Gegners, wie selbst das bewußtlose Thier instinctmäßig erschrickt und aufschreit, wenn es sich plötzlich seinem Feinde gegenüber sieht. Wenn es auch dazu gekommen, daß Sylvest selbst zum Flüchtling geworden wie der Holzer-Martl, war sie vielleicht die unfreiwillige Veranlassung dazu, aber die Schuld traf ihn selber, warum hatte er sich eines flüchtigen Verbrechers angenommen? Und während sie das dachte, regte sich in ihr das Wohlgefallen, daß er es gethan und daß er sein Vorhaben so muthig und klug durchgesetzt hatte – wäre der Thäter ein anderer gewesen, wie hätte sie sich der That gefreut! Während so Gedanken und Gefühle wechselnd in ihr hin und wider flutheten, war es fast dämmerig geworden. Sie blickte um sich und gewahrte nichts, als hinter und vor sich die Straße, rings um sich her den Wald. „Es wird ja fast schon Zwielicht,“ sagte sie vor sich hin, „der Weg zieht sich doch länger, als man meint; ich denk’, ich werde da vorn am Brückel den Gangsteig einschlagen: auf dem ist’s fast eine Stunde näher, sonst wird’s finster, eh’ ich aus dem Wald draußen bin.“

Der Fußpfad war bald erreicht. Er sah stark betreten und kenntlich aus, so daß sie, mit Ort und Richtung ziemlich wohl vertraut, ihm unbedenklich folgte. Von ferne wurde es zwischen den Fichtengipfeln hell und ließ die Nähe des freien Landes erkennen.

Ebenso wurde es allmählich auch heller in Kuni’s Gedanken; sie war fest entschlossen, nicht wie die Base den Gifttropfen des Hasses in der Brust bis an’s Sterbelager mit sich zu tragen; sie schleuderte ihn von sich und dazu gab es ja ein einfaches Mittel; sie durfte nur an den Gegenstand desselben nicht mehr denken, durfte ihn einfach vergessen, dann war jede Beziehung zwischen ihnen zerrissen; es war so gut, als ob der Mensch gar nicht auf der Welt wäre, und wenn er wider Willen und Vermuthen ihr doch noch einmal vor die Augen käme, konnte sie gelassen bleiben, als wenn ihr der wildfremdeste Mensch begegnete. Wie sie sich aber dieses Vergessen und ihr Benehmen bei einer solchen Begegnung ja recht ausmalte, brach trotz aller Vorsätze die Gluth des alten Grolles wieder aus der dünnen Friedensasche hervor – sie sah ihn vor sich stehen, wie er sie mit den funkelnden Augen maß und sie vor Allen als eine Person hinstellte, welche verdiene gehaßt zu werden, und ein unverkennbares Etwas bäumte sich in ihr auf, als ob sie das niemals vergessen könne und dürfe, ehe er nicht für seinen Uebermuth gestraft und sie in der Meinung Aller wiederhergestellt sei.

Ein plötzlicher Windstoß schreckte sie aus ihren Träumereien auf, indem er ihr beinahe das Tuch vom Halse riß und sie zwang, besser des Weges zu achten, auf dem sie eilend und unbekümmert fortgeschritten war. Beklommen gewahrte sie, daß sie sich an einem Orte befand, der ihr, mindestens im winterlichen Gewande, völlig unbekannt war. Der Weg hatte an Spuren öfteren Betretenseins verloren und theilte sich überdies in geringer Entfernung in zwei Pfade, deren einer sich wieder in den Wald wendete, während der andere sich gegen eine offene, aber wieder durch einen buschigen Hügel abgeschlossene Niederung hinzog.

„Schau, schau!“ sagte sie, „da muß ich mich unter lauterm Denken und Sinniren vergangen haben; dort in den Wald darf ich nicht mehr zurück; ich schlag’ mich dorthin gegen das Freie, dort von der Anhöh’ muß ich ja eine Aussicht haben; es kann doch nimmer weit sein bis an den See.“

Der Entschluß wurde sogleich in’s Werk gesetzt, aber die Ausführung war schwieriger als sie geschienen. Das Gewölk, das sich immer tiefer und tiefer niedergesenkt, begann endlich sich in einem dichten Schneegestöber zu entladen, welches der Wind durcheinander trieb, so daß Kuni die nassen Flocken in’s Gesicht schlugen und sie kaum die Augen offen zu halten vermochte. Darüber schwand das letzte matte Tagesgrauen, und das Mädchen hatte kaum die Niederung durchschritten und die Anhöhe, an welcher aller Pfad sich verlor, erreicht, als die Nacht völlig hereingebrochen war und einen undurchdringlichen schwarzgrauen Schleier auf die ganze Gegend breitete.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 566. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_566.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)