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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Regen-Metamorphose einer Wiener Künstlerin.


Die Mutter antwortete nicht gleich. Endlich sagte sie leise: „Ja.“

Sie erhob sich und ging mit unhörbarem Schritte auf und nieder. Linda ließ ihre Füße niedergleiten, gesellte sich zu ihr und wanderte mit ihr durch das Zimmer, indem sie den Arm leicht um ihre Schulter schlang.

„Wie schwül es ist!“ sagte Frau Therese.

Mit einer Elasticität der Bewegung, welche den feinen Gliedern lange gefehlt hatte, rückte das junge Mädchen zwei Sessel in die Nische eines Fensters, dessen Flügel sie weit öffnete. Belebende Kühle strömte herein. Sie zog die Mutter mit sich dorthin, nahm, als Beide einander gegenüber saßen, deren Hände in die ihrigen und küßte erst die eine, dann die andere. Darauf bat sie: „Erzähle!“

Frau Therese nickte; sie beschattete einen Moment ihre Augen mit der Hand; dann fuhr sie gelassen fort. „Es folgten inhaltsschwere Jahre. Deine Geburt, Linda, war eine letzte, hohe Freude vor langer Trauerzeit. Wie im Triumph bist Du auf der Welt empfangen und zur Taufe getragen worden; fast unmittelbar nachher begann Deine Mutter zu klagen. Niemand von uns Allen, sie selbst am wenigsten, ahnte den Ernst eines Leidens, das verhängnißvoll werden sollte. Sie erholte sich wieder, brachte eine Zeit voll Heiterkeit und Freude bei uns zu und kehrte, scheinbar genesen, in ihr Haus zurück. Ein Jahr später wurde Dein Bruder geboren; nun ging es rasch mit ihr abwärts. Inzwischen waren meine Mutter und ich an den Rhein übergesiedelt, um ihr nahe zu bleiben. Wir sahen dieses leuchtende, wärmende Leben erlöschen, wie eine Sonne – es wurde Nacht für uns Alle.

Dein Vater bat, daß wir bei ihm bleiben möchten; dies war in der That nothwendig, sollte er sich nicht von den Kindern trennen. Das Notariat, welches ihm reichliches Einkommen sicherte, und ein eigenes Haus, das er sich erbaut hatte, fesselten ihn an die kleine Landstadt. Er rechnete uns als Opfer an, daß wir fortan sein Stillleben theilen wollten; es war keines. Meiner Mutter war durch den Verlust ihres geliebtesten Kindes fast das Herz gebrochen; sie begehrte von der Außenwelt nichts mehr, und ich – nun, was mich vor ein paar Jahren eine Uebersiedelung noch hätte fürchten lassen, konnte nicht mehr in Betracht kommen. Laß Dir gestehen, Linda, was ich mir damals kaum selbst gestand! Ich hatte gewartet – lange – lange gewartet, den Ton noch einmal zu hören, der verstummt blieb. Ich hörte auf, zu warten, so oft aber eine fremde Gestalt


Nasses Stillleben im Hochgebirge.
Nach der Natur aufgenommen von H. Heubner.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 577. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_577.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)