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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


mir näher zu treten versuchte, schob sich der dunkle Kopf mit jener edlen Bewegung, die ihm eigen war, dazwischen, und trennte mich von allem Neuen. Nun, Jahre waren hingegangen; auch das trat zurück. Unser jetziger Entschluß war ganz nach meinem Herzen; was mir der Aufenthalt in einer großen Stadt geboten hatte, ward durch die Freude, womit ich Dich und den Kleinen pflegte, durch meinen Hang zum Naturgenuß mehr als aufgewogen.

So lebten wir ein paar Jahre friedlich hin, ohne daß sich die Entbehrung des theuern Geistes, welcher das Haus, in dem er gewaltet, so früh verlassen, in uns abgeschwächt hätte. Dann ward abermals eine Stelle leer: meine theure Mutter starb nach kurzem Krankenlager. Einige Monate nach ihrem Verluste sprach Dein Vater mit mir über unsere gemeinschaftliche Zukunft. Ich weiß nicht, waren ihm Bemerkungen zu Ohren gekommen, oder hatte ihn eigene Weltkenntniß bestimmt – kurz, er sagte mir offen, wir seien Beide noch zu jung, um auf die Dauer neben einander fortzuleben, ohne das Gerede der Welt herauszufordern. Nachdem er geäußert, daß er sich nie von seinen Kindern trennen würde, und mich vor dem Gedanken solcher Trennung nicht weniger erschrecken sah, frug er mich in Ruhe und Freundschaft, ob ich mich entschließen könnte, die Stelle Eurer Mutter und seiner Hausfrau in Wahrheit auszufüllen, und ich willigte ein.

Ich war damals kaum vierundzwanzig Jahre alt, doch schien es mir, als läge bereits ein langes, langes Leben hinter mir, und vor mir sah ich nichts, wonach ich lebhaft begehrte, als nur das Eine, bei Euch bleiben zu dürfen. Ich wußte, daß Nichts und Niemand auf Erden Deinem Vater ersetzen konnte, was ihm Fanny gewesen, ich wußte aber auch, daß er mir stets herzlich zugethan war, und vergalt dies mit gleicher treuer Freundschaft. Wir verbanden uns stille, und – Du hast vorhin das rechte Wort gefunden, Linda – ein harmonisches Leben knüpfte unser Aller Existenzen täglich fester aneinander.

So vergingen etwa drei Jahre. Der Ruf Deines Vaters als tüchtiger und redlicher Charakter führte ihm mehr und mehr Clienten zu; er vermochte zuletzt die ihn bedrängenden Geschäfte nicht mehr zu bewältigen und that Schritte, sich einen fähigen Concipienten zu gewinnen. Um dies zum Abschluß zu bringen, reiste er nach der Kreishauptstadt und schrieb mir bald von dort, daß er gefunden, was er wünschte, und mit dem jungen Manne, den er sich engagirt habe, nächster Tage zu Hause eintreffen würde.

Als Beide anlangten, stand Rainer vor mir. Seine Ueberraschung war nicht geringer als die meinige; obgleich ich damals der Verheirathung meiner Schwester gegen ihn erwähnt hatte, war der Name ihres Mannes nicht genannt worden. Die Erinnerung an meine liebe Mutter ergriff mich bei diesem unerwarteten Auferstehen vergangener Stunden mit Gewalt und füllte mir Herz und Augen. Mein Mann, im ersten Moment erstaunt, orientirte sich bald. Er begriff meine Stimmung, die für Alles, was mit der Verlorenen zusammenhing, immer reizbar blieb, und lenkte mit dem glücklichen Humor, welcher ihm zu Gebote stand, zum Scherz hinüber, indem er Rainer mit dessen Eroberung seiner Schwiegermutter neckte, die noch nach Jahren gern des ‚Künstlers‘ gedacht hätte, der sich jetzt, im umgekehrten Processe der Raupe und des Schmetterlings, als Actenwurm entpuppte. Daß Deinem Vater selbst aus einem gleichlautenden Namen kein Zusammenhang mit einer wohl gehörten, aber unbeachteten, längst vergessenen Episode meines Lebens aufgegangen war, begriff sich leicht.

Die Jahre, welche seit jenem Maitage verflossen waren, hatten Rainer wenig verändert, nur gesellte die Erscheinung des Mannes Kraft und Ruhe zur Anmuth des Jünglings. Er flößte auf den ersten Blick Vertrauen ein und wurde bald vom ganzen Hause fast wie ein Familienmitglied betrachtet. Vielleicht erinnerst Du Dich seiner noch? Er war Euch Kindern ein stets bereiter Spielgefährte. Dem Hausvater galt er schon bald als tüchtiger Geschäftsbeistand; mir selbst war er ein stilles Spiegelbild einer frühen Jugend, die ich mich längst gewöhnt hatte, in unendlichen Weiten zurückliegend zu denken. Das Hausleben fügte sich harmonischer als je. Rainer wohnte nicht bei uns, schien aber dem leisen Zuge gern zu folgen, womit ihn Dein Vater auch außer den Geschäftsstunden an sich zu fesseln suchte. Auf meines Mannes Anregung nahm ich nun auch meine lange in Ruhe gebliebene Zeichenmappe wieder hervor, und gab mich auf den Ausflügen, welche wir gern in Familie unternahmen, in Rainer’s Schule. Nie war ich zufriedener, herzensruhiger als in jener Zeit. Das Leben füllte sich mit leichten freudigen Pflichten, jeder einzelne Tag war gleichsam durchdrungen von Frische und Wärme. Warum das anders werden mußte, ist Gottes Geheimniß, wie alle Schmerzen es sind.

Noch weiß ich’s, wie heute. – Dein Vater, den ein Geschäft über Land führte, hatte mir vorgeschlagen, ihn auf dem Gange zu begleiten. Es war auch im Mai. Ich mußte noch eine häusliche Arbeit beenden und ging dann mit Hut und Schirm in das Bureau, ihn abzurufen. Er begab sich in das Nebenzimmer, um sich gleichfalls zum Ausgang zu rüsten. Rainer trat indessen von seinem Pulte zu mir heran und sprach irgend etwas Gleichgültiges. Ich sah auf, ihm zu antworten, aber keine Silbe kam über meine Lippen. Seine Augen ruhten auf mir mit einem stillen Blicke, der mich bis in das Innerste traf. Mit demselben Blicke hatte er einst gesagt: ‚wenn Wünsche in Erfüllung gehen, sehe ich Sie wieder.‘ – Was ich durch Zeit und Erlebnisse längst und für immer überwunden meinte, ward mit plötzlicher Gewalt lebendig, war wieder da. – Er war da, Rainer, und füllte mir die Welt aus.

Von diesem Augenblicke an vermieden wir einander, fast zu ängstlich, zu absichtlich. Dem man aus dem Wege geht, das hört darum nicht auf zu sein. Ich klammerte mich an Lebende und Todte, um Hülfe zu finden, und fand sie auch. Er aber stand allein.

Erinnerst Du Dich noch unseres Hauses in Burg, Linda? Es ruhte in heiterer Einsamkeit mitten in der schönen Landschaft, mit Ausblick auf Strom und Hügel – wie lachend war der Garten, wie still das grünumhegte Eckplätzchen, wo wir an warmen Abenden draußen zu speisen pflegten! Schon kam der Hochsommer heran. Eines Nachmittags sagte mir Dein Vater, Rainer würde zum Abendtische kommen, was lange nicht geschehen war, denn er hatte in jüngster Zeit jeder Aufforderung auszuweichen gewußt.

Ihr Kinder waret schlafen gegangen. Die ersten Sterne kamen heraus. Wir Drei saßen nach Tisch im Garten bei angeregtem Gespräch. Ein Gefühl von Ruhe, wie ich es lange nicht mehr genossen, zog in mir ein. Alles, was mich während der letzten Monate wider Willen so schmerzlich beglückt, so schwer bedrängt hatte, wich zurück wie ein banger Traum. Friedlich empfand ich zwischen uns Allen nur schöne Gemeinsamkeit. Die lange, heimliche Qual erschien als selbstquälerischer Wahn.

Das Gespräch der Männer wendete sich auf die öffentlichen Angelegenheiten, und wieder trat die Uebereinstimmung zu Tage, welche Beide in allen wesentlichen Lebensfragen zum gleichen Ziele führte, wenn auch zuweilen auf verschiedenem Wege. Ein Zeitungsartikel, über welchen sie ihre Ansichten austauschten, veranlaßte Rückblicke auf das letzte, vielbewegte Jahrzehnt. Da sagte Rainer, der nachdenklich geworden, mit leichtem Wechsel der Farbe: ‚Sie wissen schwerlich, Herr Delbring, daß Sie mit einem politisch Compromittirten verkehren. Die Jahre, von welchen wir soeben sprachen sind mir ziemlich verhängnißvoll geworden.‘

‚Inwiefern?‘ fragte Dein Vater aufmerksam.

‚Ich bin ein Pfälzer,‘ sagte Rainer. ‚Nach abgelegtem Staatsexamen gönnte ich mir ein paar Monate zu reisen, ehe ich mein Berufsleben in der Heimath antrat. Die Nachricht der Ereignisse von 1848 trafen mich in Italien. Sie wissen, wie es im darauf folgenden Jahre in der Pfalz, in Baden aussah. Ich erkläre Ihnen wohl ein anderes Mal, wie es zuging, daß ich nach meiner Heimkehr von der Bewegung, deren unseliger Ausgang ihr schon an die Stirn geschrieben war, mitgerissen und fortgewirbelt wurde. Für mich persönlich war das Ende der Dinge mehrjährige Haft, und vom Staatsdienste habe ich zunächst keine Förderung zu erwarten. Dies der Grund, weshalb Sie mich gegenwärtig als Ihren Concipienten beschäftigen, vorausgesetzt,‘ er lächelte ernst, ‚daß mich diese Mittheilung nicht auch bei Ihnen compromittirt. Es fand sich bisher kein einfacher Anlaß, sie überhaupt zu äußern.‘

Dein Vater drückte ihm freundschaftlich die Hand. ‚Tempi passati,‘ sagte er, ‚wenn sich damals der Patriotismus vergriff,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 578. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_578.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)