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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

trinkt seinen Whiskey stehend aus und geht rasch weiter; der Engländer trinkt nicht weniger, als der Deutsche, aber hinter geschlossenen Jalousien; der Franzose nippt leicht und fein, aber der Deutsche sitzt breit am breiten Tische in urkräftigem Behagen, trinkt, weil im Glase Träume liegen, und singt sein: „Was kümmert mich das heilige römische Reich? weg corpus juris! weg Pandecten! weg mit den theologischen Secten!“ in guter Stunde um so inbrünstiger, als er den Tag über furchtbaren Ernst aus diesen Dingen gemacht hat. Ist es nicht ein Ueberschäumen des Gemüthes, das, für einige Augenblicke losgebunden, frei, sich mit trotzigem Humor über die philisterhafte Wirklichkeit und die Pedanterien der Gesellschaft hinwegsetzt? Luther, der unter den schwersten Kämpfen und Arbeiten sorglos mit seinem Philipp und Amsdorf Wittenbergisch Bier trinkt und sich getröstet, daß derweilen sein Wort läuft und dem Papst an die Krone langt, ist ein echtes Bild deutschen Humors.

Mit starken geselligen Neigungen von der Natur ausgestattet, schloß ich mich an eine der beiden Stiftsgesellschaften an und zwar an das „Nordland“, aus Vorliebe für den naturwüchsigen, derbkräftigen Geist, der in dieser Verbindung vorwaltete, angelockt zugleich durch den Ruf hervorragender Köpfe, welche damals der Verbindung zur Zierde gereichten, unter Anderen eines Wagenmann[WS 1], jetzt Professors in Göttingen, eines Auberlen, des bekannten, früh in Basel verstorbenen Theosophen. Neben einem halben Dutzend von Erzkneipern, die wenig arbeiteten und gleich dem Herrn von Rodenstein ihr „Gerspranz, Reichelsheim und Pfaffenbeerfurt veritranken“, bestand der größte Theil aus tüchtigen Menschen, welche Fleiß in den Studien und strenge Sitten mit Lebenslust und kernigem Humor zu verbinden wußten.

Die Winterabende wurden nach Vorschrift, aber in unbeaufsichtigter Geselligkeit auf den Zimmern zugebracht, eine unerschöpfliche Fundgrube des Humors und der Charakterbildung. Da waren tüchtige, durch verschiedene Prüfungen gesiebte Jünglinge von vier Altersstufen und den verschiedenartigsten Anlagen und Charakteren für den engsten Geistesverkehr nahe aneinander gerückt. Da war der würdige Senior der bald abgehenden Promotion, der nach hergebrachter Sitte mit dem feierlichen Cylinder auf dem Kopfe durch die Stadt ging, neben dem schüchternen, unerfahrenen Füchslein, das im Dämmer der kommenden Herrlichkeiten schwelgte. Da war der eifrige Beckianer, der sich nach der Stunde sehnte, da er im Schooße einer Gemeinde Zeugniß von seinem Herrn ablegen konnte, neben dem Philosophen, der mit dem lieben Gott nicht auf dem besten Fuße stand. Da saß der lächelnde Schalk neben dem gemüthvollen Enthusiasten. Da war der geniale, bizarre Kopf, der einen Monat lang auf der faulen Haut lag und lumpte, um den nächsten Monat im Dienste einer wissenschaftlichen Liebhaberei bis Nachts ein Uhr bei der Lampe zu sitzen, unaufhörlich den stärksten Kaffee schlürfend, neben dem regelrechten geistlosen Nachtbüffler, dem ehrgeizigen Kopf, der von Anfang an berechnete, auf welchem Wege die beste kirchliche Carrière zu machen sei, und darauf alle seine Kräfte spannte. Alle diese Menschen rieben und entzündeten sich aneinander und mußten lernen, sich gegenseitig zu schätzen und zu vertragen. Wie sprühten die Funken des Witzes bei diesen abendlichen Unterhaltungen! Wie schärfte sich das Urtheil und vermehrte sich die Kenntniß der Menschen und Dinge unter diesem Austausche der Meinungen und Erfahrungen!

Gedenk’ ich all’ dieser Dinge, rechne ich dazu den bildenden Umgang mit befreundeten oder verwandten Familien, ohne dessen Pflege mir nicht leicht ein Tag verging, das bewegte und mannigfaltige Leben, das sich aus dem Zusammenwohnen von achthundert Studenten aller Facultäten in einer kleinen Stadt erzeugt, so durften wir wohl unseren Wunsch als über Bitten und Verstehen erfüllt betrachten: näher an des Lebens Quellen.

Aber wie stand es um die Brüste der Wissenschaft, nach denen das Musenkind so sehnsüchtig verlangte? Die Vorzeichen, welche mir an der Schwelle der Universität entgegentraten, verhießen wenig Günstiges. Auf dem Katalog der Vorlesungen stand die Geschichte der griechischen Philosophie von Dr. Eduard Zeller, Privatdocent. Diese Vorlesung war damals schon wegen der Gründlichkeit der Quellenforschung und der durchsichtigen Darstellung als meisterhaft bekannt, wie das später unter dem gleichen Titel im Druck erschienene Werk heute noch zu den glänzendsten Leistungen der deutschen Wissenschaft gezählt wird. Mein ältester Bruder, der schon eine ansehnliche Stellung in der Kirche einnahm, hatte mich vor dem Abgang zur Universität eindringlich gemahnt, doch ja dieses Colleg nicht zu versäumen. Allein was geschah? Als ich auf das Verzeichniß der Vorlesungen, die ich im ersten Semester hören wollte, Zeller’s Geschichte der griechischen Philosophie oben ansetzte, bat mich der Repetent – Schröder hieß er – dieses Fach zu streichen als laut einstimmiger Anschauung des Repetentencollegiums für diese Stufe nicht geeignet, und als ich auf meinem Vorsatz beharrte, verwandelte er die liebevolle Ermahnung in ein kategorisches Verbot, gegen das nur der Recurs an das Stiftsinspectorat offen stand. Ich griff zu diesem letzten Mittel, wurde aber auch da abgewiesen, weil diese Behörde mit der einzigen Ausnahme Baur’s aus Männern der gleichen conservativen Richtung bestand, wie das damalige Repetentencollegium. Ich konnte in diesem Verfahren nur einen Kunstgriff der kirchlichen Reaction sehen, dem glänzenden Vertreter der Theologie, soweit es einigermaßen mit einleuchtenden Gründen sich thun ließ, den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Seit Strauß’s „Leben Jesu“ vom Jahre 1835 war der herrschenden Kirche eine schmähliche Angst in die Glieder gefahren; ein jeder unabhängigen Forschung feindseliger Pietismus fing an sich zu fühlen und fand oben in den leitenden Kreisen des Staats und der Kirche eine Stütze; was früher als unanstößig und unschuldig gegolten hatte, wurde jetzt anrüchig. Die einst in den goldenen Tagen ihrer Studienzeit die Natter der Kritik und des Zweifels fröhlich hatten um ihr Haupt spielen lassen, die sah man jetzt als Bekehrte mit allein den Convertiten eigenem Eifer in das Repetentencollegium oder in’s Vicariat eintreten und bei Vielen durfte man von einem neuen unwürdigen ruere in servitium (in die Knechtschaft stürzen) reden. Was sich nicht beugen wollte, blieb sitzen oder wurde gemaßregelt. Zwar an Baur wagte man sich nicht, so laut auch das Murren frommer Kreise sich vernehmen ließ, daß man einem solchen Heiden die theologische Jugend anvertraue; aber an seinen Schülern und jüngern Mitarbeitern kühlte die Reaction ihr Müthchen. Einen Zeller, dessen Vorlesungen zu den besuchtesten gehörten, der durch seine Apostelgeschichte, seine theologischen Jahrbücher etc. sich als einen Meister in Theologie, wie Philosophie bewiesen hatte, ließ man auf der ewigen Bank der Privatdocenten sitzen, bis er, der Enttäuschungen müde, der undankbaren Heimath und nothgedrungen später auch der Theologie den Rücken kehrte. Einen Schwegler, der durch seine Schrift über den Montanismus und seine Geschichte des nachapostolischen Zeitalters sich den Namen eines Gelehrten von eindringendem Scharfsinn und glänzender Darstellungsgabe erworben hatte, speiste man aus Gnaden mit der Stelle eines Stiftsbibliothekars ab, wo er mit Hülfe der Stiftskost und einiger hundert Gulden ein kümmerliches Dasein fristete.

Das waren die Zeichen der Zeit, unter denen wir unsere Studien antraten. Aber noch ein anderes kam hinzu, das mit noch weit grellerem Lichte zündete. Kaum hatten wir uns einen Monat oder zwei zu den Füßen Friedrich Vischer’s mit jugendlicher Begeisterung niedergelassen, so wurde er durch einen Spruch der Regierung von seinem Katheder auf zwei Jahre entfernt. Er hatte die Inaugurationsrede, mit welcher er den eben gegründeten Lehrstuhl für Aesthetik einzuweihen hatte, mit einer Art feierlichen Schwures geschlossen: unter Anrufung des „Genius mit den Silberschwingen“ schwur er der Orthodoxie Haß, glühenden Haß. Ich saß unter der dichtgedrängten Zuhörermenge und war ganz in mich gekehrt, wie festgewurzelt und versteinert, und merkte erst beim Umschauen, daß Alles in höchster Aufregung den Saal schon verlassen hatte und ich allein zurückgeblieben war. Die Rede wurde zum Ereignisse, welches das ganze Land beschäftigte. Man hatte gut reden von einer ganz unnöthigen, vom Zaune gerissenen Provocation, aber man denke sich einen Augenblick in die Zeitlage hinein: Männer, welche in dem Kampfe Lessing’s gegen Göze mehr als nur ein vorübergehendes Fechterspiel sahen, welche sich an der Welt Schiller’s und Goethe’s genährt hatten, welche zu den Füßen Hegel’s gesessen waren und eine neue Weltanschauung wie ein brennendes Feuer in sich trugen, sahen sich einem Kirchenthume und Dogma

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wagemann
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_621.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2019)