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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

aussteigen müssen und die leeren Wagen mit Vorspann weiter befördert werden, schien dem Transporte ein unübersteigliches Hinderniß entgegen zu stellen. Aber die sinnreiche Construction des Wagens trug den Sieg davon: seit vierzehn Tagen sind alle Figuren in Ammergau angelangt, leider nicht ohne das Opfer dreier Menschen, welche ein kleines Versehen beim Hinaufwinden der letzten Figur, des Johannes, mit dem Tode unter der herabstürzenden Kiste büßen mußten. Die Reisecaravane wälzt sich heute achtlos an dem Orte vorüber, wo aufgewühltes Erdreich, hingeworfene Bretterstücke und geknickte Bäume deutlich genug die Unglücksstelle verkünden. Dicht daneben steht ein großer Ameisenhaufen unbeschädigt – ringsum flüstern die Hochwaldtannen, drunten rauscht der Wildbach. Es ist eine echte Hochgebirgsstraße, auf der, wie der Postillon gleichmüthig versichert, schon viel Unglück passirte.

Beim hochgelegener Kloster Ettal, wo der Reisende die Wahl hat zwischen der raschen Besichtigung der prachtvollen Kirche oder – einer „Stehhalben“, (die Meisten entscheiden sich für das Letztere) wird wieder eingestiegen und nun geht’s durch die sinkende Nacht vollends nach Oberammergau, dessen Kirchthurm und Häusergiebel sich scharf vom Nachthimmel abheben. Das Gefühl des „Unternommenwordenseins“, was sich schon herwärts durch die Art der Verpackung und Beförderung sehr bemerkbar macht, erreicht seinen Höhepunkt in dem Augenblicke, wo man, Einer nach dem Andern, sein in München erstandenes Wohnungsbillet in einer schlechtbeleuchteten Parterrestube vorzeigt und darauf als Nummer so und soviel gefaßt und in irgend einem nahen Bauernhause untergebracht wird.

Beiläufig sei hier für diejenigen, welche das Spiel noch zu besuchen gedenken bemerkt, daß diese sehr prosaische Beförderungsmethode dennoch die einzige sichere ist. Man nimmt in München bei Juwelier Thomas eine Karte für Schiff, Omnibus, Wohnung und Theater und ist damit aller Sorge ledig. Andernfalls kann man am Abend sehr rathlos in dem überfüllten Orte stehen. Wir begaben uns in’s nahegelegene Wirthshaus, wo dem Vernehmen nach die Patriarchen und Apostel sammt dem Herrn Christus ihren Abendtrunk hielten, und hatten uns richtig nicht getäuscht. In der niedrigen, rauchigen menschenüberfüllten Wirthsstube mußte Einem trotz des Alles erfüllenden Qualms dieser Tisch voll prachtvoller, langbärtiger Männerköpfe sofort auffallen. Da saß obenan „der Christus“ in einer grauen Lodenjoppe, auf welcher sich das langherabwallende schwarze Lockenhaar seltsam genug ausnahm, und unterhielt sich eifrig mit dem nebensitzenden Abraham – über das Bier. Abel und Kain, Joseph und seine Brüder hatten gleichfalls ihre Maßkrüge vor sich stehen und waren für heute noch „Menschen, wie die Andern auch“. Sehr hervorzuheben ist es indessen, daß der große Erfolg ihrer Spiele den Leuten nicht den Kopf verdreht hat. Der Christus sprach sich mit aller Bescheidenheit über die allseitigen Leistungen aus und meinte, man möge keine großen Ansprüche machen, es sei eben doch nur ein Bauerntheater und keine Hofbühne. Manchen alten Bekannten vom Passionsspiele her sahen wir noch, Annas und Kaiphas, sowie die Jünger Jesu. Nur Johannes war nicht zu sehen – er ist seit zwei Jahren beim Militär.

Eine Stunde später wiegte der rings herniederplätschernde Regen ganz Ammergau zur Ruhe, welcher sich Diejenigen mit besonderem Hochgefühle hingaben, die, vom Schicksale begünstigt, im Hause des „Prologs“, Joseph’s von Arimathia oder gar der heiligen Jungfrau übernachteten. Die Letztere, Herrn Zeichenlehrer Flunger’s schöne Tochter, „thut“ dieses Jahr nicht mit, dagegen ihre jüngere Schwester, welche die Rolle der Sarah spielt.

Trotz der schlechten Vorbedeutung des gestrigen Regens glänzte am andern Morgen heiteres Frühlicht über dem Thale, und bei seinem Scheine trat ich noch einen kleinen Rundgang vor der Vorstellung an. Mitten in dem schönen, offenbar sehr wohlhabenden Dorfe steht die Kirche in dem etwas erhöhten Friedhofe, dessen vordere Ecke von einem stattlicher Denkmale für die Gefallenen des letzten Feldzuges gekrönt wird. Das Hochamt war im Gange. Goldstarrende Geistliche an drei Altären, das Volk regungslos auf den Knieen – man konnte spüren, welche Macht der Clerus hier zu Lande ausübt. Noch ein Gang hinüber nach dem Aussichtshügel, wo die kolossalen Kisten liegen und die Locomotive rastet, von wo das neue Crucifix künftig über Dorf und Thal schauen wird, und nun endlich nach dem Theater!

Die große Bretterbude des „Passionsspiels“ hat die Hälfte vom Zuschauerraum eingebüßt und ist vollständig gedeckt, so daß nicht wie ehemals der blaue Himmel und die grünen Alpenweiden über die Scene hereinschauen. Im Innern kämpft das Tageslicht mit der Lampenbeleuchtung, der Vorhang zeigt eine römische Säulenhalle mit der Aussicht auf Jerusalem. Die „Logen“ und „Sperrsitze“ erweisen sich sämmtlich als tannene Bänke, auf welchen es schon ziemlich eng zu werden anfängt, und während der noch übrigen Minuten gewährt ein musternder Blick in das buntgemischte Publicum großes Interesse, denn die Gegensätze von Bauern, Engländern, Münchener Ultramontanen und Berliner Journalisten berühren sich hier nahe genug. Auch der hochwürdige Clerus ist in imposanter Menge vertreten.

Inzwischen beginnt, von dem Schullehrer Herrn Josef Kirschenhofer als Componisten geleitet, das Orchester die Introduction. Während derselben theilt mir ein Nachbar mit, daß die Kreuzesschule in der alten Form zuletzt im Jahre 1825 aufgeführt und nun als Feier und Dank für die geschenkte Kreuzesgruppe von Herrn geistlichen Rath Daisenhofer neu bearbeitet worden sei. Das Passionsspiel wird bekanntlich in Folge eines Gelübdes alle zehn Jahre aufgeführt. Diese Kreuzesschule ist eine Art von Gegenbild, denn während dort die „Handlung“ das Leiden Christi darstellt, mit eingeflochtenen symbolischen „Vorstellungen“ aus dem Alten Testament, bildet dieses hier den eigentlichen Stoff und kommen dazwischen als lebende Bilder oder „Vorstellungen“ die Scenen aus der Passion.

Während der Schlußaccorde im Orchester treten von rechts und links gleichzeitig mit gemessenen Schritten die „Schutzgeister“ unter Führung des „Prologs“ auf, treffen in der Mitte vor dem geschlossenen Vorhang zusammen und stehen dann ernsthaft in einer Reihe, ein wenig hölzern, alle mit der gleichen Handbewegung den Mantel auf der Brust festhaltend, aber mit so viel feierlicher Andacht in den frischen Gesichtern, daß ein Abglanz davon auf das Publicum übergeht. Mittlerweile beginnt der „Prolog“, ein schöner Mann mit dunklem Vollbarte in scharlachrothem Mantel und goldener Krone, seine Rede vom Erlöser.

Er knieet dann mit den Schutzgeistern rechts und links am Proscenium nieder und deutet während des Chorgesanges beim Heben des Vorhanges auf ein von anbetenden Gruppen umgebenes hohes Kreuz. Alle Darsteller, bis zum kleinsten Kinde herunter, zeigen eine staunenswerthe Ausdauer. In langen Minuten, während des Wechselgesanges der Engel, wird keine Bewegung sichtbar, selbst die zur Höhe gehobenen Arme zittern kaum merklich. Endlich senkt sich der Vorhang. Die Schutzgeister verlassen die Bühne feierlich gemessen wie sie kamen und es folgt die erste Abtheilung: der Bruderhaß.

In einer ganz hübsch gemalten Palmenlandschaft, vor der elterlichen Hütte, erscheint der mit Tigerfellen bekleidete Kain und ergeht sich in leidenschaftlichen Hassesreden gegen den bevorzugten Abel, dieser selbst kommt bald darauf und gießt mit seiner ahnungslos erzählten Opfergeschichte Oel in’s Feuer. Von Kain’s lauten Verwünschungen erschreckt, eilt Eva herbei und sucht Frieden zu stiften, was ihr bei der Ankunft Adam’s noch nicht recht gelungen ist, der traurigen Herzens die Folge seiner Sünde betrachtet.

Adam, der Christus des Passionsspieles, ist eine königliche Erscheinung voll Freiheit und Grazie der Bewegung; den sämmtlichen Anderen wird jede leidenschaftliche Gefühlsäußerung zur Klippe; Eva jammert ihre Klagen sehr gleichmüthig herunter, während Kain viel mehr mit den Armen ficht und über die Bühne tobt, als nöthig wäre. Die friedlichen Mitglieder der Familie Adam sind in Lämmerfelle gekleidet und nehmen sich, mit Ausnahme Abel’s, eines unscheinbaren Männchens, sehr gut aus. Während die Engel wieder singend auftreten, hat sich Adam rasch zum Christus metamorphosirt und treibt als solcher in der „Vorstellung“ die Wechsler aus dem Tempel. Ein lebendes Bild von circa fünfzig bis siebzig Personen, mit überraschendem Geschick und künstlerischer Empfindung gruppirt. Das Zusammenwirken der ganzen Gemeinde zu einer solchen Leistung fühlt sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_635.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2019)