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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

deutlich aus der hohen Vollendung des Ganzen heraus. Jedes lebende Bild ist von erklärenden Worten des Prologs, wechselnden Arien und Chorgesang der Engel begleitet, größtentheils eigene Composition des Dirigenten, untermischt mit eingelegten Gesangsstücken. Die Musik ist durchweg ausdrucksvoll, stellenweise nimmt sie sogar einen Anlauf zu Wagner’schen Effecten.

Nun folgt der Brudermord, Kain lockt Abel mit falschen Liebesreden auf’s Feld hinaus, um ihn dort zu erschlagen, und kommt dann, während Eva sich in neuen ausdruckslosen Wehklagen ergeht und Adam den Sohn draußen sucht, mit blutigen Händen zurück. Sofort erscheint der Engel, ihm sein Schicksal zu verkünden. Er stürzt verzweifelnd hinaus, während von der andern Seite Adam, den erschlagenen Sohn auf den Armen, daherkommt. Sanft legt er ihn nieder und tritt dann von der jammernden Eva weg, um mit prophetischen Worten den künftigen Erlöser zu verkünden. Die sämmtlichen Darsteller sprechen ein sehr fragwürdiges Hochdeutsch, reichlich mit hartem ch und sonstigen Dialekt-Eigenthümlichkeiten untermischt.

Kain’s Blutthat wird symbolisirt durch den Verrath des Judas. Nach der Einleitung zeigt sich das Innere des Tempels, wo Judas den Blutlohn aus der Hand des Hohenpriesters empfängt. Die sämmtlichen Costüme der Kriegsknechte, Juden und Priester sind so, wie wir sie auf Albrecht Dürer’s und seiner Zeitgenossen Bildern sehen, mittelalterliche Kürasse, türkische Kopfbunde und gehörnte Priestermützen – eine ganz rein erhaltene Ueberlieferung aus dem sechszehnten Jahrhundert. Bis hierher verhielt sich das Publicum ziemlich still, nun fangen einzelne Urtheile an, laut zu werden. „Wundervoll!“ „Weit unter meiner Erwartung,“ heißt es von rechts und links mit den verschiedensten Begründungen. Die folgende Handlung, Melchisedek’s Opfer, liefert den Vertretern der letzteren Ansicht reiches Material, denn es gehört eine Bauerngeduld dazu, die langathmigen Verhandlungen Abraham’s und des Königs von Sodom über den freien Durchzug für das Kriegsvolk ohne Langeweile anzuhören, um so mehr, als die Qualität des Gesprochenen keineswegs für die Quantität entschädigt. Aber der frühere Besucher des Passionsspiels sieht mit Ungeduld der nächsten Vorstellung des „Abendmahl Christi“ entgegen, welches nun in seiner ganzen herzbewegenden Schönheit sichtbar wird.

Getreu dem Leonardo’schen Bilde, sitzen die Apostel an der langen Tafel, prächtige Charakterköpfe voll Ausdruck und Leben, in ihrer Mitte der wahrhaft ideale Christus in violettem Gewande und rothem Mantel, das schöne Haupt wehmüthig segnend gegen sie geneigt – ein Anblick von so edler Großartigkeit, daß kein Auge unergriffen auf ihm ruhen kann. Die kurzen Minuten verstreichen allzu rasch, ich erinnerte mich auf’s Lebhafteste dieser Scene im Passionsspiele, wo Christus mit einer hoheitsvollen Anmuth, um die ihn jeder Hofschauspieler beneiden könnte, die Fußwaschung an den Jüngern vollzieht, dann in stillem Gebete Brod und Wein segnet und ihnen austheilt. Dies zu sehen, sogar nur hier als lebendes Bild, ist die Reise werth. Der Eindruck davon bleibt unverlöschlich im Gedächtnisse stehen.

Auch läßt sich nicht leugnen, daß diese neutestamentlichen Bilder die Glanzpunkte der heutigen Vorstellung sind. Die vierte Abtheilung, Abraham’s Ergebung in den göttlichen Willen, ist mehr zu erdulden als zu genießen, denn auch hier muß die gute Meinung und treuherzige Naivetät der Darsteller für viel langweiliges Gerede entschädigen. Sarah, eine schöne große Figur, wie aus Schnorr’s Bilderbibel, spielt weit lebendiger als Eva und bringt den Schmerz der Mutter beim Vernehmen des göttlichen Befehles besser zur Darstellung als Abraham, der mitten in seinem Jammer plötzlich ganz beruhigt sagt:

„Weg von mir, ihr zweifelnden Gedanken!“

und geht, seine Vorbereitungen zu treffen. Auch der verkündende Engel leistet in Theilnahmlosigkeit das Unglaubliche, wie denn überhaupt diese plötzlich hereinprallenden Bauernbubenengel mit ihren gellenden Stimmen das einzige bis zum Lächerlichen Triviale der ganzen Darstellung sind.

„Christus im Garten Gethsemane“ bildet die Vorstellung zum Vorhergehenden, ein schönes ruhiges Bild voll Mondesglanz auf den schlafenden Jüngern und dem eben mit tiefgeneigtem Haupte knieenden Christus. Von rückwärts fällt rother Fackelschein auf Judas und die eindringenden Häscher.

„Abraham’s Opfer“ ist um kein Haar dramatischer als Abraham’s Ergebung. Der Verfasser hat aus unbekannten Gründen vorgezogen, den Standpunkt nicht auf dem Berge Moriah zu nehmen, so daß wir nach Isaak’s wohlgemuthem Abschied: „Ich gehe zum Vater, aber über ein Kleines werdet ihr mich wiedersehen“, längere Zeit die Bitten und Klagen der hübschen Sarah anhören, bis endlich ein Diener und nach ihm Abraham und Isaak zurückkommen und das Vorgefallene erzählen. Die Einheit des Ortes und der Zeit ist damit allerdings glänzend festgehalten und das ländliche Publicum hört den langen Reden auf’s Andächtigste zu.

Nun kommt der Höhepunkt, das große Kreuzigungsbild, das den Weltruf der Oberammergauer Passion begründet hat. Der Vorhang rollt auf, und vor dem erschütternden Anblicke der drei hochaufgerichten Kreuze geht eine starke Bewegung durch den Zuschauerraum. Aber nicht nur ergreifend, sondern zugleich so wunderbar schön ist diese „Kreuzigung“, daß ein Gefühl der feierlichsten Andacht Jeden, und wäre er der blasirteste Weltmensch, bei ihrem Anblicke überkommt. Die kurzen Augenblicke genügen nicht, das figurenreiche Bild vollständig in’s Auge zu fassen, die Gruppen der weinenden Frauen, die Kriegsknechte, die unter dem Kreuze das Loos um den Mantel werfen, und das umstehende Volk: alle Blicke sind festgeheftet an dem ergebungsvoll geneigten schönen Haupte unter der Dornenkrone, an den tadellosen Linien dieser edeln Gestalt, die wie siegreich schwebend am Kreuze hängt. Die beiden Schächer, in der Weise befestigt, daß die Kreuzesarme unter ihren Schultern durchgehen, sind auch schön gebaute junge Männer, aber sie verschwinden vor dieser Christusfigur, welcher gegenüber, wie ich fest glaube, sich Niemand der augenblicklichen Illusion entschlagen kann. Kein Schauspieler von Profession könnte etwas Aehnliches leisten, denn gerade die vollständige Naturwahrheit und die völlige Verschmelzung mit der Rolle, die hier bis zur geringsten Kleinigkeit geht, machen den überwältigenden Eindruck.

Der Schauspieler muß ihr sehr genau entsprechen, da von künstlerischen Verschönerungsmitteln kaum die Rede ist, und eben weil er auf der Bühne seine wahre Persönlichkeit giebt, nimmt er auch ein Stück der Rolle in sie auf und trägt es in’s Leben mit hinaus. Auch in sittlicher Beziehung muß sein eigener Charakter mit der dargestellten Figur übereinstimmen, nur ein völlig unbescholtener Mann darf den Christus, nur ein züchtiges Mädchen die Maria spielen „Auch unter die Apostel,“ sagt Steub, „werden nur ehrsame und reife Männer aufgenommen, aber bei den römischen Kriegsknechten und den conservativen altjüdischen Bummlern, die es dem lieben Jesus verübelten, daß er das Christenthum stiften wollte, ist die Einreihung an weniger lästige Bedingungen geknüpft.“ Sämmtliche Theilnehmer des Spieles müssen überdies Ortsangehörige sein. – Das Glöckchen hinter der Scene klingt Allen zu früh, die sich mit großem Bedauern von dem ergreifend schönen Bilde trennen.

Die sechste und letzte Abtheilung „durch Dunkel zum Licht“ begreift als Handlung das glückliche Wiedersehen Joseph’s und seines Vaters Jakob, als Vorstellung die Auferstehung des Heilandes in sich. Keines von Beiden bietet besonderes Interesse; der alte Jakob könnte sich, so gut wie Abraham und Isaak, kürzer fassen, und der auferstandene Christus, mit Silberzindel behangen und auf einem Postamente stehend, mahnt bedeutend an die Krippenfiguren unserer Kinderjahre.

„Durch Treue in der Prüfungszeit
Folgt Jesu nach der Herrlichkeit,
Ihm nach in’s sel’ge Vaterhaus!
Dort ruht von Kampf und Mühen aus!
     Alleluja!“

schließt der Chorgesang die Vorstellung, und die Zuschauer verlassen, theils enttäuscht, theils hoch befriedigt, das Theater. Der laute Meinungsaustausch setzt sich noch über die große Wiese auf dem Wege zum Wirthshause fort, dem Alle schleunig zustreben, in der schwachen Hoffnung, noch Platz zum Essen zu finden. Vergebens! Bis unter die Hausthür schwillt der Strom der Gäste. Schweißtriefende Kellnerinnen rennen im Sturmschritte und beantworten keine Frage. Es bleibt nichts übrig, als sich mit Lebensgefahr in die prasselnde Küche zu wagen und ein paar Teller mit Braten zu annectiren. Oben am Saalfenster findet sich auch ein Plätzchen, ihn zu verzehren und zwischendurch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 636. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_636.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2019)