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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

nicht polizeilich, sondern poetisch nehme: „Es sind lauter Leute,“ sagt er, „die ihr oft recht hartes Stück Brod redlich verdienen und nur hinsichtlich ihres an keine Scholle gebundenen Lebens zwischen dem seßhaften Bürger und dem Zigeuner stehen.“ Solche „Künstler“ meinte er, als er auf ein Stammbuchblatt schrieb:

„Die Künstler irren durch die Welt
Wohl unter’m weiten Himmelszelt.
Bald ist es heiß, bald ist es kalt,
Der Eine jung, der Andere alt,
Mit schwarzem Haar, mit grauem Bart,
Ein Jeder eben in seiner Art:
Der Eine spricht, der Andre geigt,
Der Dritte singt, der Vierte zeigt,
Was eines Fünften Hand erschuf, –
Verschieden ist der Armen Beruf.
In Einem sind sie sich gleich gestellt:
Sie trachten All’ nach Glück und Geld,
Sie schlagen sich mühsam durch die Welt.“

Wie arg in der bekannten guten alten Zeit der Begriff des Vagabundenthums an Allem klebte, was zu seinem „Kunst“-Erwerbe sich öffentlich für Geld sehen lassen mußte, dafür zeugt die Thatsache, daß sogar die Ankunft des Weimar’schen Theaterpersonals, wenn es dem Hofe und Karl August und Goethe nach Lauchstädt folgte, dort mit dem Nothschrei verkündigt wurde: „Ihr Leute, die Wäsche weg! die Bande kommt!“ – Geschah dies gegen Solche, die man doch zu den Thaler-Entrée-Künstlern zu zählen hatte, so läßt sich daraus auf die sociale Stellung der Groschen-Vagabunden schließen.

Lassen wir nun die Schaar, soweit sie erhaschbar war, an uns vorübermarschiren, in bunter Folge, wie wir sie auf der Leipziger Messe in den Ecken und Winkeln bis zu den großen Aufbauten für ihre Productionen postirt sehen. Wie bei allen Aufzügen die Kleinen, gehen auch hier die Groschen-Menschen voraus. Der Vergangenheit gehören jetzt schon die „Nordischen Herculesse“ an; weniger die „Steinfresser“ und die „Feuerfresser“. Ebenso blühen noch die „Bauchredner“ und die „Meerschweinchen“, die vagirenden Komödiantengesellschaften. Gewöhnlich wird die Aufführung durch den Hanswurst antrompetet und der Komödienzettel vorgelesen. Hinsichtlich der Eintrittspreise heißt es da nicht selten: „Männer zahlen einen Groschen, Weiber einen halben, Kinder drei Pfennige, ganz kleine Kinder bringen ein Ei mit!“ –

Die „Flohgespanne“ überbot der Schweizer Jeantet mit „abgerichteten Canarienvögeln“, die er nach ihren Kunstleistungen dem hochgeehrten Publicum als Professoren, Studenten und Schuljungen vorstellte. – Einen höheren Rang behaupten „gelehrte Hirsche und Hasen“. – Unsterblich ist das „Puppentheater“. Teufel, Tod und Hanswurst bleiben die Freunde der Gassenjugend. Gleich neben ihnen stehen die herrlichen Bilder und Lieder von den „Morithaten“, die von den Männern erklärt und von den Weibern zur Drehorgel ergreifend gesungen werden. Sie thun’s am billigsten, begnügen sich mit den Pfennigen ihres Publicums. Zum Großen empor steigt wieder der „Künstler“, welcher „Kaffern“ herumführt, die lebendige Hühner zerreißen und roh verschlingen, oder „Eskimos“, die fürchterlich nach Thran riechen müssen, wenn man an sie glauben soll. Schon die höhere „Unverfrorenheit“ bewies ein „Menageriebesitzer“, der von seinem ausgestopften „Seebären“ und anderem Gethier kühn behauptete, daß es lebendig gewesen sei. Noch höher stieg ein Anderer: er zeigte einen Bastard von einem Karpfen und einem Kaninchen, das heißt man sah eine dunkle klumpige Masse in einer Spiritusflasche und daneben die werthen Eltern, das Kaninchen im Käfig und den Karpfen in einer Schüssel voll Wasser. Aber – konnte man für einen Groschen ein wahrhaftiges Naturwunder beanspruchen?

Ein guter Geschäftszweig sind „fette Damen“ und „schwere Kinder“; ihnen gesellte sich neuerdings ein „lebendes Gerippe“ zu. Ebenso profitabel zeigen sich „Riesen“ und „Zwerge“. Wer hat nicht mit Vergnügen den großen Admiral „Tom Pouce“ gesehen, wenn er, im schwarzen Frack auf seines Dieners Handteller stehend, dem Publicum seine Visitenkarte überreichte?

Ein wahres Genie von Vagabunden und Riesen zeichnet uns Holtei in seinem Freunde Schkrampel. Schon als fünfzehnjährigen Jungen konnte sein ebenfalls vagirender Vater ihn als einen Riesen zeigen. Die Speculation schlug bei ihm an. Nach einigen Jahren heirathete er eine „Frau ohne Arme“ – ein treffliches Geschäft! Sie schrieb mit den Füßen – „echte Kalligraphie“, die gut bezahlt wurde und reißend abging. Und als sie guter Hoffnung wurde, schwelgte der glückliche Vater in der Erwartung, daß sie ihm mindestens einen Riesen ohne Arme oder mit vier Händen schenken werde. Wirklich gebar sie ein Kind mit zwei Köpfen, aber das Kind war todt und die Mutter starb. Er verkaufte letztere für tausend Gulden und das Kind für fünfhundert Ducaten an ein anatomisches Cabinet in Holland, und als er daheim das Geld zählte, war er untröstlich darüber, daß er nicht Beide lieber behalten und als unschätzbaren Grundstock zu einer „Raritätensammlung“ benutzt habe. Der Riese kaufte sich nun drei Zwerge, einen „Husaren“ in Turin und zwei Schwestern in der Schweiz – eine wahrhafte „internationale“ Gesellschaft – die ein „eigenes Zimmer“ seines „Hauses“ bewohnten. Wer kennt nicht diese Häuschen auf vier Rädern, aus welchen der Küchenschlot dampft, die wandelnde Herberge ganzer Familien? Eine Kiste auf der Decke desselben war das Zwergenzimmer. Schkrampel’s Eltern starben beide in ihrem Berufe. Seine Mutter arbeitete als „starke Frau“. Als sie wieder einmal, nur mit Kopf und Füßen auf zwei Stühle gestützt, den Amboß auf der Brust trug, auf welchem ihr Mann hämmerte, zerbrach ein Stuhl und die Last drückte sie todt. Schkrampel, der Vater, aber war weltberühmt als „Gesichterschneider“, er schnitt die merkwürdigsten Gesichter noch auf dem Sterbebette und ward mit dem letzten geschnittenen Gesicht, das er nicht mehr gerade richten konnte, begraben.

Weil wir nun einmal beim Begraben angekommen sind, so wollen wir die Aufstellung dieser niederen Abtheilung der vagirenden Künstler, deren Verzeichniß wir doch nicht complet machen können, mit einem merkwürdigen Begräbniß schließen. In Paris starb vor einiger Zeit ein amerikanischer Zwerg, genannt „General Dot“. Die kleine Leiche hatte in einem Kindersarge Platz. Zur Beerdigung kamen seine vertrautesten Schicksalsgenossen herbei: ein gewaltiger Riese, sein intimster Freund, nahm den Sarg unter den Arm und trug ihn laut weinend fort, und hinter ihm gingen als Leidtragende des Generals „Cornac“, der Zuckerhutmensch, eine Jahrmarktsheiterkeit wegen seines langen spitzen Kopfes, der Skeletmann, ein Weib mit drei Armen und ein Paar abgerichtete Hunde des todten Generals. So ward dem armen Vagabunden noch die letzte Genugthuung zu Theil, daß selbst Paris seinem Leichenbegängnisse mit Verwunderung nachschaute.

Diese Sorte der wandernden Künstler ist die zahlreichste, sie nimmt auf Messen und Volksfesten lange Budenreihen ein, während die höhere Classe nur in einzelnen hervorragenden Bauten, in Theatern und Sälen oder auf den großen Plätzen der Städte paradirt.

Diese zweite Classe der vagirenden Künstler, die Leute mit dem Mark-, Gulden- und Thaler-Entrée, bilden auch im Leben derselben die höhere Gesellschaft. Bei ihnen hat die Familienehre hohen Werth, und in vielen Familien, die fest an ihrer „Kunst“ halten und Generation um Generation ihr erblich sich weihen, herrscht trotz des ewigen Wanderns gute Erziehung und edle Sitte. So bei den Chiarinis, von denen Holtei in den „Vagabunden“ uns ein rührend schönes Familienbild zeigt. Sie waren, wie Kolter und die Seinen, Seiltänzer und Equilibristen. Diese und die Kunstreiter, bei denen Bach, Guerra, Tourniaire, Renz etc. berühmte Familiennamen sind, vertreten die Classe derjenigen dieser „Künstler“, deren Productionen durch die möglichst vereinte Darstellung von Muth, Kraft und Grazie des Menschen das Gebiet des wahrhaft Schönen erreichen. Wir können deshalb hier absehen von den Besitzern der großen Menagerien und anatomischen Cabinets, die auf den Messen einen breiten Raum einnehmen; ebenso von den sogenannten Affentheatern und sonstigen Schaustellungen, in welchen der Mensch nichts mit seinem Körper leistet; wir halten uns auch hier an den alten Holtei, welcher, bei seinem Zorn gegen allen öffentlichen Dilettantismus, ebenso unbedingt seine Verehrung für Alles ausspricht, was in seiner Art vollendet auftritt, und der ebendeshalb vor der Kunstreitertruppe Lejars und Cuzent ausrufen konnte: „Hier fand ich glänzende Productionen und Talente, die bei allem äußeren Kraftaufwand Geist und Poesie athmeten.“ Hierher gehören auch die anmuthigen Leistungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_654.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)