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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

von Taschenspielern, wie Bosco etc., und selbst der Kanonenkönig Holtum mag hier noch mitgehen.

Nicht diese Darstellungen von einem möglich hohen Grade und Vereine von Muth, Kraft, Grazie und Geschicklichkeit des Menschen haben zu den „Halsbrechereien“ geführt, welche in unseren Tagen die Entrüstung der Presse erregen, sondern die Sucht, in Tollkühnheiten und häßlichen Gefahren einander zu übertreffen, und der Frevel, Gefahren zu wagen, gegen welche dem Menschen keine Abwehr, keine Rettung beim Mißlingen möglich, wo der Mensch lediglich dem Zufalle, einem stockblinden Glücke überlassen ist, wie an dem Turnrecke des fliegenden Luftballons oder mit dem Velocipede auf dem Thurmseile. Man konnte vollkommen genug haben an dem Muthe, den die einfache Besteigung des Thurmseils erfordert. Wer sich davon überzeugen will, der blicke aus dem Fenster oder vom Rundgange eines hohen Thurmes hinab in die Tiefe; selbst Männer, die ihr Leben oft gewagt haben, vielleicht an schwindelnden Felswänden und Abstürzen des Hochgebirges, kann hier ein Grausen bei dem Gedanken befallen, über diesen Abgrund hinaus auf ein dünnes schwankendes Seil treten zu sollen. Und wenn mit noch so starkem Kopfschütteln über die Anwendung dieses Muths, wir dürfen die Größe desselben, wie Wilhelm Kolter ihn so oft gezeigt hat, ehrlich bewundern und nicht kurzweg den Stab darüber brechen, daß es Geister giebt, die eine Befriedigung des Ehrgeizes in der Bewältigung von Gefahren finden, durch die sie mit dem Bewußtsein der Kraft, Gewandtheit und Unerschrockenheit eine freie Berufsarbeit vollbringen.

Wenn aber diese männlichen Eigenschaften nicht bloß der Schaulust der Menge dienen, sondern in Noth und Gefahr des Nächsten ihre rettende Kraft bewähren, wie dies Kolter und die Seinen so oft bewiesen, dann wird auch der strengste Moralist und Gegner der gesammten vagirenden Künstlerschaft die Ausnahme gestatten, auch einem solchen Verdienst ein Blatt der Gartenlaube nicht zu versagen.

Wer in Deutschland kennt den alten Kolter nicht? Er ist der populärste deutsche Seiltänzer. Jahrzehnte war er der Glanzpunkt der Leipziger Messen, von wo die Zettel mit seinem Bild und seinen Leistungen überallhin verbreitet wurden; und wer ihn nicht selbst noch gesehen, der hat von ihm gehört, denn jeder spätere Seilkünstler weckte die Erinnerung an Kolter wieder auf.

Kolter’s Vater gehörte schon der vagirenden Künstlerschaft an. Er war der erste Kunstbereiter, der sein Geschäft in’s Großartige betrieben hat. Aus England herübergekommen, hatte er als „Königlich Preußischer privilegirter Kunstbereiter“ die alleinige Concession für Preußen erhalten, und da Warschau damals (bis 1807) preußisch war, so nahm er dort seinen Wohnsitz. Auch Wilhelm Kolter, der 1795 zu Großwardein in Ungarn geboren ist, wurde Kunstreiter und ging erst nach dem Tode seines Vaters zur Seiltänzerei über, weil seine Mutter die Reitergesellschaft nicht länger führen wollte.

Wenn auch nicht so bedeutend, wie bei der Kunstreiterei, war der Rüstzug einer solchen Gesellschaft doch nicht gering, weil der gesammte Apparat, Taue, Drahtseile, Balancirstangen, namentlich aber das Thurmseil und eine glänzende Garderobe überall mit hingenommen werden mußten. Und doch machten die Vorbereitungen der Aufführungen, von der Erlangung der Erlaubniß bis zur Sicherung der Einnahme, oft mehr Schwierigkeiten, als die beschwerlichsten Reisen, so daß, wie Kolter erzählte, das Besteigen seines Thurmseiles ihm nach all der Pein noch als das Leichteste erschien.

Der Einfall, auf dem Seile zu Thurmhöhen hinaufzusteigen, kam dem zwölfjährigen Knaben schon im ersten Jahre seiner Seiltänzerei. Da das kleine Tanzseil, vom Kreuzstocke an bis da, wo es an die Bodenpflöcke befestigt ist, ebenfalls schräg abfällt und bestiegen werden muß, so versuchte er dies auch auf einem längeren Seile. Die ersten Versuche mißlangen, weil das Seil zu sehr schwankte; da verfiel er auf die Befestigung desselben durch die Anzugsleinen, und nun ging’s. Der erste derartige Aufstieg geschah zu Neumarkt in Schlesien auf einem geborgten Zimmermannsseile.

Von da an hat Kolter unzählige Thürme bestiegen und konnte sie schließlich für seinen Uebermuth nicht hoch genug finden. Nur ein Thurm, kein besonders hoher, bleibt ihm dennoch ewig im Gedächtniß: der zu Waldenburg in Schlesien. Dort war das Seil am obersten Theile des Thurmes befestigt, so daß es oberhalb der mit Kupfer gedeckten, ziemlich schräg abfallenden Kuppel hinlief. Kolter war, damals schon ohne Balancirstange, glücklich bis oberhalb der weitvorspringenden Kuppel angelangt, wo die letzten Anzugsleinen niedergingen, als er das Gleichgewicht verlor und auf die Kuppel fiel. Zwar kam er auf die Füße und stand, aber vergeblich bemühte er sich, die Glätte und Abschüssigkeit der Bedachung zu überwinden und sich aufwärts zu arbeiten. Mit jeder Bewegung rutschte er tiefer. Er schreit, die Anzugsleine loszulassen. Es geschieht, aber er kann sie Nicht erreichen. Jetzt ist’s der letzte Augenblick, die nächste Bewegung führt zum Abgrund, – da schleudert der Aufwärter im Thurme ihm die Leine zu, Kolter erfaßt sie, schwebt nun über der schwindelnden Tiefe, aber mit fester Faust sich zum Seile und zur Kuppelspitze emporarbeitend. Kaum ein wenig verschnauft, ging er auf dem Seile über dieselbe Stelle hin, nun mit zwei Pistolen bewaffnet, die er unterwegs abschoß, wieder hinab.

Dieser unfreiwillig bestandenen äußersten Lebensgefahr folgte dann die freiwillig gesuchte in Aachen, die dem Mann seinen Siegerruf verschaffte und welcher seine glücklichste Zeit folgte, 1819 bis 1824, wo er am Hofe eines Herzogs von Württemberg im Schlosse Karlsruh bei Oppeln sogar als Ballettänzer mit seiner Schwester Aufsehen machte und ein so glückliches Talent für Komik zeigte, daß Devrient ihn bei der Bühne behalten wollte. Da aber König Friedrich Wilhelm der Dritte ihn ebenso gern zu Potsdam auf dem Thurmseile sah, so blieb er bei seiner Kunst. Da trieb die Wanderlust den Sieger von Aachen in seinen russischen Feldzug. Mit einer starken Gesellschaft war er in das Reich des Czaren eingedrungen, als derselbe starb. Dieser Tod, dem das Verbot aller öffentlichen Kunstleistungen folgte, war sein brennendes Moskau, und da auch er, wie sein Vorgänger Napoleon, den Rückzug zu spät antrat, so ward der Eisgang der Berezina auch sein Unglück. Endlich kam er mit den Trümmern seines Glücks nach Kreuzburg in Schlesien, wo er die Seinen durch Tanzunterricht erhielt. „Was thut der Mensch nicht in der Noth!“ So schließt Kolter die Erzählung dieser Erlebnisse.

Außer Rußland hat er mit seinem Rüstzug ganz Deutschland, Ungarn, Polen, Italien und Frankreich durchzogen. Auch Wunden genug hat er sich auf dem Felde seiner Ehre geholt, Rippen-, Arm- und Beinbrüche und Brandwunden; den alten Seiltänzertrieb hat jedoch keine Cur mit wegheilen können.

Aber auch sein Wohlthätigkeitstrieb, sein Helfer- und Rettersinn ist ihm treu geblieben. Er, wie seine Schwiegersöhne, scheuten keine Gefahr, wo es Feuers- und sonstige Noth zu überwinden galt. In Polen, Schlesien, Sachsen und Brandenburg erzählt manche Stadt noch heute von W. Kolter’s rettenden Thaten, wie oft er sein Leben gewagt, wo Hunderte und Tausend schreiend und zagend Stätten des Verderbens umstanden; Kinder und Frauen trug er aus den Flammen und aus verheerender Fluth; wie viel Hab’ und Gut ist durch seine und Waitzmann’s Unerschrockenheit und Kraft vor der Vernichtung gewahrt, ja, wie manches Haus, ja manche Straße durch ihre Opferfähigkeit, ihre Ausdauer in Gefahren und Mühen erhalten worden! Städte-Chroniken, Ehrenmedaillen, Silberbecher und Belobungsschreiben erinnern noch heute den Greis daran, was er als Jüngling und Mann im Dienste seiner Menschenliebe vollbracht hat.

Um so mehr ist, es zu bedauern, daß all’ sein treues Sorgen für seine Familie, seine alten Tage und die Zukunft der Seinen, durch welches er ein schönes Vermögen und eigenes Haus als letzte Heimstätte erworben, ohne seine Schuld vergeblich war. Eine fallirende Bank und der Tod, der ihm die Gattin, zwei Schwiegersöhne, drei Töchter und zwei Enkel raubte und die Last der Versorgung der Verwaisten auf ihn lud, haben ihn zum armen Manne gemacht, der, nun wieder ohne Heimstätte für das müde graue Haupt, den Wanderstab, der schwerer wird mit jedem Tage, fortschleppen muß – ohne Hoffnung und Aussicht auf eine andere Erlösung, als die allbekannte der Zeit. Es wäre hübsch, wenn alte Dankbarkeit und Zuneigung sich jetzt in edler Weise für „den alten Kolter“ erneuern möchten.

Fr. Hofmann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 655. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_655.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)