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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

dem Capellmeister auszuweichen, wie ich es beharrlich versucht, seit er Olga Nikolajewna den Hof macht. Er weiß sich mir freilich mit einer erstaunlichen Ungenirtheit wieder zu nähern und übersieht dabei ganz meinen Zorn. Wenn mich die schwarzen Augen dann mit einer verwunderten Frage in ihrer dunklen Tiefe so freundlich anschauen, bin ich leider oft nicht genug Herrin meines Willens, um die Hand, die unwillkürlich sich ihm entgegenstreckt, zurückzuhalten.

Der Verlauf einer Kindergesellschaft ist, denke ich, in aller Herren Ländern derselbe. Ich habe die Kinder gern, und so begann ich auch gestern, mich wirklich wohl zu fühlen, als ich mich nach Gefallen unter den fröhlichen Schwarm mischte, in dem so viel Lieblichkeit, Anmuth und Unschuld vereinigt war. Auch Hirschfeldt ist ein Kinderfreund, und das gefällt mir an ihm. Wie ich die schlanke Gestalt inmitten der Kleinen erblickte, wie ich ihn nicht müde werden sah, auf ihre Neckereien einzugehen, mit ihnen zu spielen und endlich zu tanzen, da fühlte ich in meinem Herzen den Groll gegen ihn verschwinden.

Fräulein Adrianoff kam mit ihrer Mutter, da Constantin erst um neun Uhr erwartet wurde. Sie strahlte in Schönheit und Glück. „Fräulein Helene,“ war das erste Wort, welches sie mir zuflüsterte, „keiner Ihrer kleinen Gäste kann sich mehr auf dieses Fest gefreut haben, als ich.“

Ihre Freude war mir nur zu begreiflich. Heute, in der Zwanglosigkeit der Kindergesellschaft, dem Bereiche von Constantin’s scharfen Augen entrückt, fühlte sie sich frei, hatte auch den besten Willen, diese Freiheit zu genießen, und that es nach Herzenslust. Ich habe sie noch niemals so belebt gesehen, wie gestern. Sie setzte offenbar den Becher, den die Gunst des Augenblickes ihr bot, frisch an die Lippen und schlürfte den goldenen Trank, ohne vorwärts oder rückwärts zu blicken. Sie fand Gelegenheit, mit Hirschfeldt hier und da ein unbeachtetes Wort zu wechseln, ja, ich entdeckte mehrmals die Beiden in einem Winkel oder von einer Blumengruppe halb versteckt, und als Wéra später zu mir kam und mit einem vielsagenden Händedrucke ihren Empfindungen Ausdruck gab, legten ihre feucht glänzenden Augen, ihre glühenden Wangen deutlich genug Zeugniß von dem Inhalte der gehabten Unterredung ab.

Sie tanzten miteinander. Wéra tanzen zu sehen, ist schon an und für sich ein Genuß. Die russischen Damen ähneln überhaupt, was Grazie und Leichtigkeit der Bewegung anbetrifft, den Französinnen, übertreffen sie vielleicht sogar, und zumal Fräulein Adrianoff ist im Tanzen die vollständige Sylphide. Ihre prachtvoll ebenmäßig gebaute, biegsame Gestalt folgt dem Rhythmus der Musik in so natürlich anmuthiger Sicherheit, daß sich dem Zuschauer sofort die Ueberzeugung aufdrängt: das ist nichts Studirtes oder auch nur Erlerntes, sondern die vollständigste Natur. Sie kann eben nicht anders, als sich vollkommen der Musik anschmiegen, und dabei berühren ihre zierlichen, kleinen Füße in spielender Leichtigkeit kaum das glänzende Parquet. Wéra, tanzend im Arme des Geliebten, war ein bezauberndes Bild. Beide gleich schön und in diesem Augenblicke gleich selig, vergaßen sie, daß das Antlitz der Spiegel der Seele ist, vergaßen die Maske der Convenienz auf demselben fest zu halten, und daß es Augen in ihrer Nähe geben könne, die, minder strahlend als die ihrigen, versuchen möchten, in diesem unbewachten Moment darin zu lesen.

Mir erzitterte das Herz in glühendem Weh, und dennoch konnte ich meine Blicke, die wie gebannt dem Paare folgen mußten, nicht losreißen. Ich that es endlich gewaltsam und eilte an das Instrument, von welchem ich den für diesen Abend engagirten Pianisten mit dem Bemerken fortcomplimentirte, daß, da ich nicht tanze, es mir Vergnügen machen würde, wenigstens für eine Weile zum Tanze zu spielen. Ich that es in dem verzweiflungsvollen Bestreben, etwas zu beginnen, das meine Gedanken betäubte und abzog. Ich spielte, ohne zu denken oder mich einmal umzusehen, ohne Aufhören Alles, was ich eben in den vor mir liegenden Heften fand, vom schwermüthigsten deutschen Walzer bis zur wildrauschenden Mazurka, zu deren Klängen die Knaben vor Freude jauchzten und sich mit hellem Gelächter mühten, dem schwindelnden Tempo zu folgen. Ich fühlte wirklich fast eine Art von Betäubung. Es war wie ein Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte. Aber das Erwachen kam ohne mein Zuthun, indem eine Hand leicht und elastisch meine Schulter berührte. Als ich empor sah, schaute ich in Hirschfeldt’s unruhig bewegte Züge.

„Wo ist Wéra?“ fragte er.

Ich, ohne mich stören zu lassen und nur etwas leiser die Tasten anschlagend, antwortete ihm:

„Als ich sie zuletzt sah, tanzten Sie mit ihr.“

„O, das war vorhin“ – seine Stimme zitterte fast in unterdrückter Ungeduld –, „aber ich wurde in den Salon gerufen und dort von der alten Kleopatra Feodorowna, die an Nichts mehr denkt als an das Wohlthätigkeitsconcert, fast eine halbe Stunde mit langweiligen Reden festgehalten. Als ich darauf zurückkehrte, war Wéra verschwunden; ich sehe sie weder hier noch im Salon, und … und … auch Olga Nikolajewna erblicke ich nirgends. Beide sind, wie die kleine Alexandra mir sagte, zusammen fortgegangen.“

Ich spielte einen Schlußaccord und stand langsam auf. Wie immer, wenn eine Thatsache unmittelbar an mich herantritt, war auch jetzt vollkommene Ruhe über mich gekommen. Ich wußte, daß der Capellmeister in der That Ursache hatte, sich zu beunruhigen, denn Fräulein Adrianoff ist nichts weniger als vorsichtig und Olga – eine Intriguantin.

Die Thür nach der Galerie war der Kälte wegen geschlossen; die jungen Damen mußten also, wenn nicht im Salon, so doch an der gegenüber befindlichen Seite desselben zu finden sein, und ich ging, sie zu suchen. Kaum hatte ich jedoch einige Schritte gethan, als ich einen der Diener gewahrte, der, sichtbar verstört und mit spähenden Blicken, im Eingänge des Salons erschien und, sobald er mich erblickt, auf mich zueilte.

„Was giebt’s, Wassili?“ fragte ich, ihm entgegen tretend.

„Ach, Fräulein,“ lautete die leise und hastig gegebene Antwort, „Sie möchten doch rasch kommen: die Gouvernante ist ohnmächtig geworden.“

Hirschfeldt, der sich an meiner Seite gehalten, schien mit einer Fluth von Fragen auf den erschrockenen Boten zustürzen zu wollen, doch ich schob ihn beschwichtigend zurück und fragte nur den Letzteren, wo Olga sich befände.

„In Zenaïde Petrowna’s kleinem Salon, und es ist Niemand bei ihr als Fräulein Adrianoff.“

Gut – um in Madame Branikow’s kleines Empfangszimmer zu gelangen, mußte man entweder die Schlafzimmer oder den mit Gästen angefüllten großen Salon durchschreiten, es war demnach unmöglich, daß der Capellmeister, ohne Aufsehen zu erregen, mich dahin begleiten konnte. Auf meine Erinnerung daran blieb er allerdings zurück, aber ich hatte noch nie eine solche Unruhe bei ihm wahrgenommen, wie sich in Folge meiner Worte auf seinem Antlitze abspiegelte. Ich gebot noch Wassili, Niemand weiter von dem Vorfalle zu benachrichtigen, da man die Gäste nicht beunruhigen dürfe, und dann suchte ich, so unvermerkt wie möglich an all’ den lachenden, schwatzenden kleinen und großen Menschen vorüber gleitend, das bezeichnete Gemach zu erreichen.

Es ist ein Raum, nahezu ebenso groß wie der Salon, aber man hat ihn durch einen schweren, großen Vorhang von violettem Sammet in zwei Hälften getheilt, deren eine, wie das häufig in Rußland geschieht, als Schlafzimmer benutzt wird, während in der vorderen Madame sich vorzugsweise aufhält, wenn sie es sich bequem machen will, wenn sie nicht für Jedermann daheim ist und nur nahe Bekannte empfängt. An der einen Seite befindet sich hier ein großer, ringsum freistehender ruhebettartiger Divan, dessen Kopfende von den vorzüglich schönen Kronen einiger schlanken Palmen überragt wird, die so geschickt angebracht sind, daß die ganz mit Polstern umkleideten Kübel allerliebste Ruhesitze bilden. Hier, unter dem grünen Blätterdache, auf Zenaïde Petrowna’s Lieblingsplatze, lag die Gouvernante, nicht mehr, wie Wassili gesagt, in Ohnmacht, sondern in Krämpfen. Sie stieß immerwährend entweder halblaute, kaum verständliche Worte oder unarticulirte Töne aus, griff mit den Händen wild um sich und schüttelte sich in Convulsionen, während Fräulein Adrianoff, Todesangst in allen Zügen, sie zu halten suchte und sie mit einer starkduftenden Flüssigkeit aus ihrem Flacon überschüttete. Sobald das Fräulein meiner ansichtig wurde, stieß sie einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus.

„O, Fräulein Helene, welch Glück, daß Sie kommen! Helfen Sie!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_663.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)