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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Mensch ein großes Werk fertig gebracht hat, der sich gleich drei Fuß von seiner Nase ein Ziel setzte und nicht vielmehr den Sprung mit allen Kräften that, je weiter, desto besser. Es ist schon dafür gesorgt, daß jedem begeisterten Streben das Bleigewicht anhängt, man braucht es nicht in der eigenen Tasche mitzubringen und auszurechnen: ‚Bis hierher will ich großmüthig sein, aber nicht weiter!‘ Kind, Kind, ich sage Dir: Wer nicht früh seine Wahl trifft und mit vollem Herzen die Sache der Großen und Guten zu der seinigen macht, der verfällt der Kleinlichkeit und dem Egoismus, Euern beiden Schooßsünden, Ihr sanften holden Frauen, und geht darin unter. Bin ich es denn allein, den der Ekel anfaßt, wenn er die Menschen sieht, die, wie neidische Kinder, ihren kleinen Vortheil ängstlich festkrallen und darum schreien und keifen? Und das Leben ist so kurz, die Gelegenheit zum Wohlthun so hundertfach, und Niemandem fällt es ein, wie leicht er sich und Anderen das berühmte ‚Jammerthal‘ etwas freundlicher machen könnte!“

Emmy’s gutes Herz fing an, sich zu rühren. Sie kam sich während des Onkels letzter Rede schon lange nicht mehr so tiefgekränkt vor, im Gegentheil, es stieg ein ganz kleines Etwas von bösem Gewissen in ihr auf. Sie schwieg aber und beugte sich auf die Rose nieder, die sie in der Hand hielt. Der alte Mann sah in die abendglänzende Landschaft hinaus, dann wandte er sich wieder zu ihr:

„Unser Leben ist durch die unabwendbaren Schicksale schon reich genug an Noth und Herzeleid, man sollte es sich nicht noch freiwillig verbittern. Rings um uns lauern Armuth, Krankheit und Tod. – Niemand legt seinen Weg zurück, ohne wenigstens Einem von ihnen seine Opfer zu bringen, aber sie bringen sich leichter und reiner, wenn das Herz nicht von des Lebens Gemeinheit vergiftet ist. Niemand kann die großen Plagen des Menschengeschlechtes aus der Welt schaffen, aber die kleinen, überflüssigen Qualen, die man sich gegenseitig in blindem Unverstand zufügt, die könnten beseitigt werden, und welche Rolle fiele Euch dabei zu, Ihr Frauen, wenn Ihr groß genug dächtet, sie zu begreifen!“

Emmy wollte antworten, der Onkel legte die Hand sanft auf ihren Arm und sagte:

„Laß mich aussprechen, Kind, was mir in dieser letzten Woche bei Euren täglich wiederholten Streitigkeiten so sehr auffiel. Wir sehen uns vielleicht nicht so bald wieder allein, und ich habe zu Deiner guten Natur das Vertrauen, daß sie nur des Fingerzeiges zum rechten Weg bedarf. – Weißt Du, was der ganze Grund der häßlichen, gereizten Streitigkeiten zwischen so vielen Frauen und speciell zwischen Schwiegermüttern und Töchtern ist? Das böse Wort, die Stichelreden, die Ihr Euch von frühester Jugend angewöhnt, als Waffe gegen Euresgleichen zu gebrauchen, das ewige Corrigiren und Besserwissen, oft sogar gegen den Ehemann. Eine unwürdige, schändliche Waffe, dieses Sticheln, gleich dem Indianerpfeil mit der vergifteten Spitze. Und Ihr seid nicht geknechtete Orientalinnen, nicht verachtete Negerweiber, auf deren Geschwätz keiner ihrer Männer auch nur achtet, sondern Ihr steht inmitten der Familie sehr berechtigt, sehr einflußreich da, nur für meinen Geschmack nicht hinreichend verpflichtet. Auf Eurer unbedachten Zungenspitze, in Euren leichtfertigen Händen tragt Ihr stets das Brandgeschoß, was ohne viel Federlesens geworfen wird, sobald die Gelegenheit passend scheint. Wenn ich die Frauen zu ‚emancipiren‘ hätte, beim Himmel, ich würde ihnen zu allererst die Ehre anthun, sie für ihre Worte in derselben Weise verantwortlich zu machen, wie es die Männer sind, und ich glaube doch, die schnellen Zünglein würden nach und nach durch die unangenehmen Folgen etwas behutsamer werden.“

„Als ob die Männer keinen Streit untereinander hätten!“ warf Emmy ein.

„Ich rede nur von der Art des Streites, liebes Kind. Differenzen sind überall unvermeidlich, wo verschiedene Interessen gegeneinander stoßen, aber wozu haben wir denn unsere ganze vielberühmte Humanität und Bildung, vom Christenthum ganz zu schweigen, wenn wir dadurch nicht in Stand gesetzt werden, die kleinen Differenzen mit schonender Rücksicht zu überwinden, die größeren und großen in offener Auseinandersetzung mit den Andern auszutragen? Ich möchte die Schwiegermutter sehen, und wenn sie eine der berüchtigten ‚bösen‘ wäre, die nicht nach und nach weich würde, wenn sie einer stets gleichbleibenden Güte und Rücksicht begegnete. Natürlich werden die Gelegenheiten nicht ausbleiben, wo verschiedene Ansichten und Absichten sich gegenüber stehen. Dann muß geredet werden. Aber statt mit verdeckten Batterien anzurücken und: piff paff! mit Stichelreden das Gefecht zu eröffnen, warum nicht einfach sagen: aus diesem oder jenem Grunde kann ich das, was Du verlangst, nicht thun, Mama! und ihr die Sache wirklich auseinander setzen, statt nach Eurer Lieblingsgewohnheit immer den eigentlichen Grund zu verschweigen und tausend unstichhaltige dafür geltend zu machen?“

„Das kann man eben nicht immer,“ antwortete Emmy lebhaft, „es giebt Dinge, die sich gar nicht so klar machen lassen, selbst einem Manne nicht, während man doch lebhaft fühlt: es ist so und muß so sein!“

„Ach, liebes Kind,“ rief der Onkel lachend, „kommst Du mir auch mit dem Gefühlsargument? Das bedeutet eigentlich, daß ich die Schlacht gewonnen habe, denn es ist immer Euer Letztes, wenn das übrige Pulver verschossen ist. Aber ich lasse es Dir nicht passiren, Emmychen, was vernünftig gedacht ist, kann man klar machen, folglich ist das Verschwiegene entweder unvernünftig, oder – ich muß auf das schlimme Wort zurückkommen – so egoistisch, daß man es aus Scham verschweigt. Dort sitzt auch der Haken, Ihr könnt hundertmal den Grund nicht nennen, denn es würde doch sonderbar lauten: ich bin zu bequem oder zu eigensinnig, dies oder jenes zu thun.“

„Das ist man auch nicht immer,“ sagte Emmy, „sondern man hat einmal seine gewohnte Art, eine Sache zu machen, und soll sie nun ohne Grund plötzlich ändern –“

„Wobei das Endresultat, die gewaschenen Vorhänge oder der Topf voll eingemachter Kirschen, sich natürlich ganz gleich bleibt. Aber man ließe sich lieber lebendig braten, als zugeben, daß die andere Art auch gut, möglicherweise ebenso gut sei, als die eigene. Und gar den Gedanken hegen, man könne es um des lieben Friedens willen einmal auf die andere Weise probiren, da man doch sonst ziemlich viel Sinn für Veränderung besitzt, nein, diese Zumuthung wäre schrecklicher, als alle Gräuel, die sich sonst in der Weltgeschichte hier und da zugetragen haben sollen!“

„Uebertreibe nicht gar so arg, Onkelchen,“ lachte Emmy. „Weiß ich doch, daß Du die Frauen nicht so tief stellst, um im Ernste anzunehmen, daß wir alle unsere Schul- und Herzensbildung mit dem Eintritt in das Eheleben vergessen könnten!“

„Schul- und Herzensbildung? Ja, das frage ich mich auch oft staunend,“ sagte der Onkel. „Wo ist sie hingekommen, wenn man die strebsamen jungen Damen nach ein paar Jahren als Frauen wiedersieht? Ihr lernt doch mit scheinbarem Eifer in Schulen und Cursen das Wissenswürdigste menschlicher Geistesgeschichte; bleibt denn davon Nichts hängen, ist denn Das, was den Knaben und Jüngling begeistert und ihm die Richtung für’s Leben verleiht, nur Euch gegenüber ganz wirkungslos? Stehen die großen Figuren der Weltgeschichte nicht auch für Euch als Trost und Vorbild da? Man sollte denken, daß, wer einmal die Lebenskämpfe der großen Männer und Frauen mit tiefem Antheile begleitet hat, hinfort seinen Mund nicht mehr öffnen würde, um über die kleinen Widerwärtigkeiten seines sonst ganz glücklichen Lebens zu klagen. Etwas mehr große, allgemeine Interessen, Ihr Frauen, etwas mehr wirkliches Gemüth und etwas weniger sogenannte Gemüthlichkeit, und es wäre Euch geholfen! Um wie viel richtiger würdet Ihr Eure kleine Umgebung taxiren, wenn Euch der Blick auf den großen Horizont frei bliebe, wenn Ihr begriffen hättet, wie viel interessanter die Dinge sind, als die Personen, wenn Ihr Euch um das Wesen der Dinge kümmern wolltet! Die sämmtlichen Gattin-, Hausfrau- und Mutterpflichten könntet Ihr bei dieser Auffassung erst recht musterhaft erfüllen und wäret selbst am glücklichsten dabei!“

Es wurde ganz still, die junge Frau saß mit gesenktem Köpfchen da. „Nun, Emmy, warum widersprichst Du mir nicht?“ fragte der Onkel endlich.

Sie hob die schönen glänzenden Augen zu ihm auf: „Weil ich Dir nicht widersprechen kann, weil Du Recht hast. Ich will Dir folgen und thun, was in meinen Kräften steht; ob es mir so gelingen wird, wie Du meinst, weiß ich freilich nicht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_678.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)