Seite:Die Gartenlaube (1875) 684.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

vergangen waren, ohne daß Hirschfeldt etwas von sich hören ließ, begann Madame wahrscheinlich im Herzen für ihren nächsten musikalischen Abend zu zittern und vielleicht auch für ihren Antheil an dem Wohlthätigkeitsconcert. Zu meiner Ueberraschung und inneren Befriedigung, der äußerlich Ausdruck zu geben ich mich indessen wohl hütete, trug sie mir urplötzlich auf, den Capellmeister durch ein Billet für den nächsten Tag zum Diner einzuladen.

„Er wagt vielleicht nicht, sich hier sehen zu lassen,“ sagte sie mit unnachahmlicher Gravität, und als der Verbrecher dann, ihrer Einladung folgend, am anderen Tage erschien und sie mit einer Sicherheit begrüßte, die an nichts weniger als an Schuldbewußtsein erinnerte, reichte Zenaïde Petrowna, einigermaßen aus der Fassung gebracht, ihm huldvoll die Hand zum Kusse, und der Friede zwischen den Beiden war stillschweigend geschlossen.

Iwan Alexandrowitsch benahm sich gegen den Gast kühl höflich und tactvoller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Olga, der es allem Anscheine nach unmöglich ist, sich bescheiden im Hintergrunde zu halten, coquettirte mit unserm Gebieter und einem anwesenden ältern Herrn in widerwärtigster Weise. Vielleicht, da sie von ihrer Unwiderstehlichkeit nun einmal überzeugt ist, hofft sie Hirschfeldt’s Aufmerksamkeit durch Eifersucht zu erzwingen. So oft ihre Blicke den Letzteren streifen – und sie thun es trotz des Vorgefallenen häufig – zuckt, wenn sie sich durchaus nicht von ihm beachtet sieht, ein falscher, rachsüchtiger Ausdruck darin auf, der mir stets unheimliche Gefühle erregt, und ich möchte die Gouvernante fortwünschen bis zu den Antipoden.

Wir übten fleißig an jenem Tage, um das während der letzten Zeit Versäumte nachzuholen, und als wir fertig waren, nahm Hirschfeldt ein Notenheft und blätterte darin. Das ist stets ein Auskunftsmittel, wenn er, unbeachtet von Anderen, einige Worte mit mir wechseln möchte, ohne daß sich eigentlich die Gelegenheit dazu bietet. Wir bedienen uns alsdann immer der deutschen Sprache, und so begann er auch jetzt. „Sagen Sie mir, wie ist Alles abgelaufen neulich?“

„Sie sehen, die Sache ist geordnet. Fragen Sie mich nicht mehr!“ erwiderte ich, da mir durchaus die Luft fehlte, nochmals wieder jene fatalen Dinge aufzurühren. Sogar Herrn Branikow’s Friedensbedingung zu erwähnen hielt ich für überflüssig; hatte der Capellmeister mir doch damals freiwillig sein Wort gegeben, dergleichen Ueberschreitungen, seinerseits wenigstens, nicht wieder veranlassen zu wollen – das mußte jedenfalls genügen. Warum nochmals davon reden?!

Von seinem Notenhefte aufblickend, fixirte er mich einige Augenblicke und sagte dann beinahe ärgerlich:

„Welch ein seltsames, eigenwilliges Wesen Sie doch sind! Da lese ich nun auf Ihrer Stirn, in jeder Linie Ihres Mundes, daß Ihnen in keiner Weise beizukommen ist, daß auch nicht ein Wort aus Ihnen herauszubringen sein würde, selbst wenn Sie mich alle Folterqualen der Neugierde erdulden sähen.“

Ich ließ anstatt jeder Antwort meine Finger in raschem Laufe über die Tasten gleiten und vermied hartnäckig seinen Blick.

„Da Sie heute unerbittlich sind,“ fuhr er nach kurzer Pause fort, „so will ich mich großmüthig zeigen und Ihnen die Neuigkeiten, die ich kürzlich erfahren, nicht vorenthalten. Wissen Sie, was man sich seit gestern in der ganzen Stadt erzählt?“

Bei seinen letzten Worten mußte ich unwillkürlich auf- und den Redenden anschauen, denn sie waren in dem Tone gesprochen, der mir bei ihm nicht mehr fremd ist, der gleichgültig oder scherzend sein soll und in welchem doch eine tiefe Herzenserregung nachzittert.

„Madame Adrianoff ist plötzlich nach Petersburg abgereist. Und Jedermann erzählt,“ fuhr Hirschfeldt, meinen erstaunten und fragenden Blick beantwortend, fort, „daß der Zweck dieser Reise darin besteht, Wéra’s Verheirathung zu betreiben. Ihr sogenannter Bräutigam soll in Petersburg sein. Auch der Gemahl hat schon vor einigen Tagen Woronesch wieder verlassen, wie es heißt, in dienstlichen Angelegenheiten, aber Niemand glaubt recht daran.“

„Arme Wéra!“ sagte ich leise.

„Ach, Sie wissen noch nicht das Schlimmste,“ fuhr mein unglücklicher Freund fort, und es entging mir nicht, wie seine Hand sich ballte. „Madame Adrianoff hat Constantin zurückgelassen, um seine Schwester zu beschützen oder besser – zu hüten, und das wird er selbstverständlich mit der Wachsamkeit eines Kettenhundes thun. Denken Sie an meine Prophezeiung! Wir werden während der nächsten Wochen kaum einen Zipfel von Wéra’s Kleide zu sehen bekommen.“

Ich schrak vor dem Blitze innerlich kochender Erbitterung, der in Hirschfeldt’s Augen aufsprühte, zurück. Ich wundere mich gar nicht über Fräulein Bartholomai’s Bericht von neulich, und mein Herz sendet täglich nur das eine angstvolle Gebet zum Himmel empor, daß sich nicht unerwartet einmal der Weg Hirschfeldt’s mit dem Constantin’s kreuzen möge! Uebrigens hat der Capellmeister bis jetzt in seiner Voraussetzung Recht behalten, denn Fräulein Adrianoff ist zu keiner unserer beiden letzten Abendunterhaltungen gekommen, sei es nun, daß ihr Bruder wirklich die Schuld daran trägt, oder daß sie nach den jüngsten Vorgängen eine Begegnung mit Olga vermeiden will. Zudem ist Zenaïde Petrowna voll Zorn gegen sie, denn sie hat ihr Ersuchen in dem Concerte mitzuwirken brieflich, sehr artig zwar, aber bestimmt abgeschlagen. Diesmal ist unsere Gebieterin zu tief beleidigt; sie wird nicht hinfahren, um den Entschluß des jungen Mädchens zu erschüttern, und so weiß ich allerdings noch nicht, wann ich hoffen darf, meine schöne junge Freundin wiederzusehen.


Den 28. December.

Weihnachten liegt hinter uns, und wir haben die Feiertage still verlebt, denn Madame Branikow litt an einer Erkältung und wollte keinen Besuch bei sich sehen, desto mehr mußte ich ihr vorlesen und vorspielen, aber die Stille dieser Tage that mir wohl, und so waren sie mir angenehm, wenn es auch kein heimisches Weihnachtsfest gab. Madame will von demselben aber doch etwas kennen lernen. Sie hat so viel von dem deutschen Christbaume gehört, daß sie ihn sehen will.

Ich, als die Einzige, welche hier die Sache versteht und kennt, wurde natürlich mit der Ausschmückung eines für den nächsten Thé dansant bestimmten Tannenbaumes beauftragt. Ich bin den ganzen Morgen in der Stadt umhergefahren, um die dazu nöthigen Einkäufe zu machen, und als ich wieder nach Hause kam, fand ich den Capellmeister bei unserer Gebieterin im kleinen Salon. Er hat in Deutschland mehrmals einen Weihnachtsbaum brennen sehen, war sogleich ganz begeistert von der Idee, durch einen solchen den Ball zu verherrlichen und erklärte, er würde mit Bitten nicht nachlassen, bis ich ihm erlaubt, mir bei der Arbeit des Aufputzens zu helfen.

„Fürchten Sie durchaus keinen Widerspruch!“ erwiderte ich ihm lached, „die Arbeit ist keineswegs gering, und da ich schon durch das Zusammenholen der Sachen mich nicht wenig ermüdet habe, so bin ich gern bereit, Ihren Beistand anzunehmen.“

Wir schmückten den Baum Nachmittags im Musiksaale, er und ich allein, und warum sollte ich es nicht aufrichtigen Herzens vor mir selber eingestehen: es waren ein paar glückliche Stunden, so glücklich, wie ich ihrer in diesem wunderlichen Lande noch nicht viele erlebt habe.

Schon der würzig angenehme Harzgeruch der Tannenzweige, der mir so viele anmuthige und liebliche Erinnerungen in’s Herz schmeichelte, untermischt mit demjenigen der Wachskerzen, versetzte mich in eine ungewohnt festliche Stimmung, und ich bemühte mich absichtlich, alle störenden, alle sorgenvoll schweren und ängstlichen Gedanken von mir fernzuhalten. Einmal, für kurze Zeit wenigstens, wollte ich ungetrübt glücklich sein wie in den Tagen der Kindheit, nein – tausendmal glücklicher noch, denn jene wunderbaren dunkeln Augen, in denen der Widerschein der kleinen Kerzen, die wir versuchsweise bald hier bald dort anzündeten, sich strahlend vervielfältigte, sie hatten mich noch nie so glänzend, so heiter angeblickt, wie heute. Es war wie ein schweigendes Uebereinkommen unter uns, keines jener Dinge, die zu anderen Zeiten uns ganz beschäftigen und aufregen, heute zu berühren. Mochte für kurze Zeit Alles in der Seele Tiefen schlafen! Unter den grünen Zweigen der Weihnachtstanne durfte uns wohl erlaubt sein, uns als harmlose Kinder zu fühlen.

Auf einem großen Tische waren alle die unzähligen niedlichen Sächelchen ausgebreitet, die den Baum zieren sollten, und indem wir, einander gegenüber sitzend, rothe Bändchen daran befestigten, drängten sich immerwährend wie von selber Erinnerungen aus der Kinderzeit mir auf die Lippen. Es war mir, als müsse ich nothgedrungen meinem Gefährten und Freunde

einen Begriff von der unbeschreiblichen, wonnedurchzitterten

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_684.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)