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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

                 „Theuerste Helene!

Gott allein weiß, was ich seit der Zeit leide, wo ich Sie nicht mehr sehe. So Vieles, so Schweres beklemmt mein armes Herz. Meine beste Helene, Sie verstehen mich, nicht wahr? Ich weiß nicht, was mit nur ist – ich verstehe nicht, was ich thue – mein Kopf brennt wie Feuer. O – wenn ich ihn nur sehen könnte! Mir würde leichter, wenn ich ihm sagen könnte, wie so sehr, wie so innig ich ihn liebe. Doch – wozu? Er muß es wissen – er weiß es, aber er weiß nicht, welche furchtbare Gefahr mich bedroht. Bitte, sagen Sie ihm das!

Hier sind endlich die Noten, die ich gestern aus Charkoff bekam. Tausend Grüße an Alle und ein freundlicher Händedruck an Sie, meine Vielgeliebte!

                 Ewig und immer Ihre

Wéra Adrianoff.“

Fast erschrocken starrte ich auf das zierliche Blatt in meiner Hand. Welch Unheil kündet es mir wieder dunkel an, und von welcher Gefahr redet Wéra nur? Vielleicht beziehen diese Worte sich auf ihre bevorstehende Verlobung, von welcher in der ganzen Stadt gesprochen wird, ohne daß doch irgend ein Mensch etwas Gewisses darüber sagen könnte. Man muß gestehen, Constantin übt in der That sein Wächteramt erbarmungslos, und doch – hat er vielleicht Recht. Während des ganzen Abends schon bin ich von Zweifeln geplagt, ob ich morgen mit Hirschfeldt über das Billet sprechen, oder es ihm zeigen soll, und kann doch zu keiner Entscheidung kommen. Vielleicht, daß guter Rath über Nacht sich einstellt, und ich will mir jetzt nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, zumal heute Abend wieder ein Ball in der Assemblée stattfindet, wo er und Wéra sich möglicher Weise sehen und Gelegenheit finden könnten, einige Worte mit einander zu wechseln.


Den 11. Januar.

Wir haben gestern in unserer Probe sehr fleißig geübt. Unser Capellmeister kam, weil er dienstlich sehr in Anspruch genommen war, ziemlich spät, und ich fand nur noch zuletzt Gelegenheit, ungestört einen Augenblick mit ihm zu plaudern. Er hat allerdings gestern Fräulein Adrianoff gesehen, aber nur wenige Worte mit ihr wechseln können, da sie fortwährend von ihren Tänzern umringt und in Anspruch genommen war. Die Beiden haben daher verabredet, am nächsten Sonntage sich nach der Kirche an einem ihnen bekannten Platze neben der Kathedrale zu treffen, wie sie sich denn auch am Abende des Concerts zu sehen hoffen.

Hirschfeldt sah bei der Mittheilung sorgenvoll aus. Ich habe bereits seit einiger Zeit die Bemerkung gemacht, daß seine Stimmung ungleich und forcirt ist. Jener unverwüstliche Lebensmuth, jene heitere Elasticität, die ihn früher allen Widerwärtigkeiten und Enttäuschungen gegenüber nur kühner vorwärts trieb, scheint mitunter ganz von ihm gewichen zu sein, und in der dunkeln Tiefe seiner nachdenklich auf mich gerichteten Augen begegnet mir alsdann ein Ausdruck zweifelnder Unsicherheit, der sich nicht mit seinem dereinstigen Wesen vereinbaren läßt. Ich fand ihn auch gestern so, und da ich ihm doch schließlich das am Tage zuvor für mich angelangte Billet von Wéra nicht vorenthalten mochte und es ihm zum Lesen darreichte, hatte er kaum einen Blick darauf geworfen, als er es mir auch schon aus der Hand nahm, es, ohne meine Einwendungen viel zu beobachten, in seine Brieftasche verschwinden ließ und nach kurzem Gruße auf und davon war. Wunderliche Menschen! Von ihm hätte ich am wenigsten dergleichen erwartet. Seine Stimmung macht mich traurig, denn sicher verzweifelt er, aus dem Labyrinth dieser unglücklichen Liebe einen Ausweg zu finden, ist daher unglücklich und grämt sich – aber warum nur vertraut er mir nicht Alles an, wie doch sonst seine Gewohnheit war?


Den 19. Januar.

Ich konnte es in der ganzen verflossenen Woche nicht möglich machen, auch nur einmal zum Schreiben zu kommen. Wir leben nur noch in Repetitionen und Proben, die mich allmählich vollkommen nervös machen, und wenn ich daran denke, daß ich übermorgen öffentlich spielen soll, erfaßt mich eine Art von Schwindel. Ich sagte heute Nachmittag zu Hirschfeldt:

„Wollen Sie glauben, daß ich Furcht habe?“

Er drohte mir mit dem Finger und antwortete: „Unterstehen Sie sich nicht! Sie müssen meine Hauptstütze sein.“

Er hat wohl Recht, Furcht ist ein vollständig lähmendes Gefühl, aber auch dasjenige, über welches man am allerschwersten Herr wird.

Unsere Gebieterin scheint wirklich stolz darauf zu sein, daß sie eine der „Hauptstützen“ in der Person ihrer Gesellschafterin zu dem Concerte liefert. Sie fühlt sich überhaupt unendlich wichtig in ihrer Eigenschaft als Directrice und glaubt, daß sie sich vollständig aufopfert, während ihre Anstrengungen in Wahrheit sehr imaginärer Natur sind und sie im Grunde nur den Namen dazu herleiht.

Also – übermorgen! Möge der Himmel geben, daß nicht ein unvorherzusehender, unberechenbarer Zwischenfall eintritt! Mein Herz fühlt sich, abgesehen von der Furcht, die mir das Concert einflößt, oft von einem dunkeln Gefühle der Ahnung niedergedrückt, von dem ich mich durchaus nicht frei machen kann.


Den 22. Januar.

Ich befinde mich heute in der seltsamsten Stimmung und Lage und bin der Meinung, Zenaïde Petrowna ist das undankbarste Menschenkind, welchem man in dieser wunderlichen Welt begegnen kann. Doch – mögen die Ereignisse für meine Vermuthung sprechen! Während des gestrigen Vormittags überlief es mich immer heiß und kalt, wenn ich an den Abend dachte, und wir hatten noch die Unbequemlichkeit zu überwinden, daß unsere letzte Probe erst am Abende von halb fünf bis sechs Uhr stattfinden konnte, weil man uns den großen Saal nicht früher einräumte. Nach meiner Rückkehr aus der Probe blieb mir gerade soviel Zeit, meine Toilette machen zu können. Als ich in den Concertsaal trat – man hatte bereits angefangen – und mit dem Blicke die sechshundert geputzten Menschen überflog, die ihn bis in den fernsten Winkel füllten, wurde mir recht bange um’s Herz.

Meine Nummer war die dritte des Programms. Fünf Minuten vorher trat Hirschfeldt zu mir, bot mir den Arm und führte mich in ein Nebenzimmer.

„Vier Minuten,“ sagte er, seine Uhr herausziehend, „gebe ich Ihnen jetzt zu den letzten Vorbereitungen.“

„Und die sind?“ fragte ich gespannt.

Er ließ lächelnd den Blick über mich hingleiten, über mein hübsches weißes Musselinkleid, welches, überall mit himmelblauer Seide eingefaßt, reichlich mit Schleifen von demselben Stoffe und einer ebensolchen breiten Schärpe verziert war.

„Diese Vorbereitungen bestehen darin,“ lautete seine Erwiderung, „daß Sie noch einmal jede Schleife zurechtzupfen, daß Sie sich fest vornehmen, nicht ein einziges Mal das Publicum anzusehen, und daß Sie überhaupt sich vollständig sammeln.“

Ich möchte nicht eben behaupten, es sei der mir so nöthigen Sammlung sehr fördernd gewesen, daß ich in diesem Augenblicke gerade das schöne Antlitz mir nahe gegenüber erblickte, aus dem ein ermuthigender, freundlicher Ausdruck mich herzgewinnend anlächelte, aber ich legte mir im Stillen das Gelübde ab, daß ich meinem Lehrmeister keine Schande machen wolle, und wenige Secunden später betrat ich an seiner Hand die Estrade. Wie ich an das Instrument gekommen bin, davon weiß ich Nichts mehr, nur wie ein nebelhaftes Traumbild schwebt mir die unklare Erinnerung vor, daß ich oben war, allen Blicken ausgesetzt, daß eine bunte verworrene Masse vor meinen Augen auftauchte und wieder verschwand, aus der ein Geräusch vieler klatschenden Hände zu mir heraufschallte, und daß ich als Revanche ein Compliment machte. Recht zur Besinnung kam ich erst wieder, als ich, am Flügel sitzend, meine Handschuhe auszog; Hirschfeldt, der an dem andern Instrumente Platz genommen hatte, gab mir mit dem Kopfe ein Signal und – fort ging es. Nun muß ich gestehen, daß etwas Wunderbares sich zutrug; ich hatte nicht die leiseste Anwandlung von Furcht, nicht einmal von Befangenheit, und die glückliche Folge davon war, daß es vortrefflich ging bis an’s Ende, wo ein wahrer sich mehrmals wiederholender Beifallssturm losbrach, unter dessen Nachhall ich an des Capellmeisters Hand die Estrade wieder verließ.

Es war ein unbeschreiblicher Moment, und ich kann wohl behaupten, daß ich mich in demselben vollkommen glücklich fühlte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_699.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)