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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Der Adressat dieser Sendung, welchem, wie ich weiß, dieses Blatt vor Augen kommt, wird sich beim Lesen dieser Zeilen eines Lächelns kaum erwehren können.

Bei Erwähnung der Waarenprobensendungen möchte ich auf einen Uebelstand aufmerksam machen, dessen Abstellung auch im Interesse der Correspondenten erwünscht ist. Es geht nämlich kein Zug in die Welt, wo nicht eine oder mehrere dieser mit feinkörnigem Inhalte oft viel zu überfüllten Täschchen zerreißen, so daß der Packtisch der Bahnposten oft wie übersät aussieht. Da die Zeit für eine umständliche Verpackung meist nicht vorhanden ist, so kann es sich ereignen, daß ein solches Täschchen völlig leer am Bestimmungsorte eingeht. Eine ausreichende Verpackung dieser Sendungen sei also hiermit dringend empfohlen.

Nachdem wir Guben passirt, tritt auf der Station Sommerfeld ein Reisender an den Postwagen und bittet um Ablassung einer Postkarte. Sie wird ihm bereitwilligst gewährt; denn auch mit dem Verkauf von Postkarten, Freimarken und Briefumschlägen


Aus der Umgebung von Freiburg.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.


befassen sich die Bahnposten. Diese Einrichtung kann dem Reisenden unter Umständen von großem Nutzen sein, nur muß er es nicht machen wie der eben erwähnte Reisende, welcher die Postkarte auf einer der nächsten Stationen in den Briefkasten der Bahnpost steckt, aber die Adresse anzugeben vergessen hat.

Uebrigens kommt die Einlieferung von Postkarten ohne Adresse gar nicht so selten vor; habe ich doch fünf bis acht solcher Fälle in Erinnerung. Und die Moral? Man gewöhne sich daran, bei Benutzung von Postkarten immer zuerst die Adresse zu schreiben; den Text wird man nicht vergessen.

Während der kurzen Haltezeit in Liegnitz wird nach Bahnhofsbriefen gefragt. Da auch diese Einrichtung neu und noch sehr wenig bekannt ist, möchte ich sie dem Leser nicht unerklärt lassen. Es ist nämlich gestattet, für den Preis von zwölf Mark pro Monat, sich täglich von einem bestimmten Absender einen Brief schicken zu lassen, welcher nicht erst an die Postanstalt des Bestimmungsortes zu gelangen braucht, sondern dort schon auf dem Bahnhofe durch das Uebergabe-Personal der Ortspostanstalt in Empfang genommen werden kann. Da diese Einrichtung eine feststehende tägliche Correspondenz zwischen zwei bestimmten Personen voraussetzt, so wird sich deren Benutzung freilich nur für Wenige eignen.

Zum letzten Male auf unserer Reise ertönt die Dampfpfeife; wir fahren sechs, ein halb Uhr früh in den Bahnhof von Breslau ein. In den Coupés recken und strecken sich die Reisenden auf den weichen Polstern und gähnen laut auf: „Wie war die Reise doch so anstrengend!“ Und der Postbeamte, welcher dieselbe stehend zurückgelegt, welcher elf Stunden ohne jede Unterbrechung mit höchster Anstrengung gearbeitet hat? Krankhaft aufgeregt sucht er seine Behausung auf und theilnahmlos für seine Umgebung und oft ohne sich zur Einnahme einer Erfrischung entschließen zu können, sinkt er auf sein Lager. Wie hat mich der Traumgott in solchen Nächten oft geängstigt[1] und mich die Reise im Schlafe fortsetzen lassen! Bald spiegelte er mir vor, ich sei rückständig mit meinen Arbeiten auf der Station angekommen oder habe ein Bund oder einen ganzen Beutel mit Briefen über die Abgabestation hinaus mitgenommen, auch ängstigte er mich wohl gar mit dem Fehlen eines Geldbeutels. – Von weit geringerer Aufregung ist natürlich der auf Tagesstunden fallende Fahrdienst.

So etwa ist eine Fahrt in der Bahnpost, bei welcher Alles seinen regelmäßigen Verlauf nimmt. Aber es giebt Reisen, wo sich zu den gewöhnlichen Schwierigkeiten noch andere gesellen, welche als unübersteigliche Hindernisse angesehen werden könnten. Hier ein Beispiel:

In einer Decembernacht des Jahres 186– begleitete ich den Courierzug Breslau-Berlin, dessen Abgang in Breslau, wie jetzt, zehn Uhr Abends erfolgte. Außer mir waren noch ein zweiter Beamter und zwei Conducteure in der Bahnpost thätig. Mein College war im Dienste jünger als ich, und ich trug deshalb bei etwaigen außergewöhnlichen Vorkommnissen alle Verantwortung. Kurz hinter der Station Spittelndorf, welche etwa sieben Meilen von Breslau entfernt ist, versetzten uns plötzlich eintretende furchtbare Stöße und Schwankungen des Postwagens in die höchste Angst. Sofort suchte ich mich mit dem Eisenbahnzugpersonal in Verbindung zu setzen; doch schon wurde das Haltesignal gegeben, und der Zug hielt bald darauf an. Es ergab sich, daß der Postwagen entgleist und bereits eine kurze Strecke neben den Schienen auf dem Sande gefahren war. Die Aufmerksamkeit des Zugführers hatte ein Unglück verhütet, dem wir jedenfalls zum Opfer gefallen wären. Der Postwagen mußte zurückgelassen werden; zur Weiterreise wurde mir ein kleines abgesondertes Coupé mit vier Sitzbänken in der dritten Wagenclasse überlassen. In diesem kleinen Raume mußten wir vier Menschen mit der gesammten Correspondenz, einer sehr großen Anzahl von Geldbeuteln sowie mit einer Menge von Utensilien Platz finden. Für die Umladung wurden uns einige Minuten bewilligt; in dieser Zeit sollten also Tausende und aber Tausende von Briefen, welche in mehr als hundert Fächern vertheilt lagen, in Bunde vereinigt werden, wenn nicht die ganze Arbeit des Sortirens verloren sein sollte. Mir schauderte bei dem Gedanken, vierzig Meilen in einem für meine Dienstgeschäfte gänzlich ungeeigneten Raume zurückzulegen. Und doch mußte um jeden Preis ausgehalten werden; denn die Einstellung der Thätigkeit würde hier die tiefgreifendsten Verkehrsstörungen nach sich ziehen, die, schon wegen des Ausbleibens der regelmäßig erscheinenden Zeitungen, in den entlegensten Gegenden und Orten empfunden werden müßten.

Man sieht hieraus, welchen Werth die Thätigkeit in der Bahnpost repräsentirt. Gewiß selten dürften die Fälle sein, wo die Versagung einer einzigen Menschenkraft Folgen von solchem Umfange nach sich zieht.

Zum Sortiren der Briefe blieb mir die Hälfte einer Sitzbank. Man stelle sich nun die Ausführung dieses Geschäftes in diesem Raume vor, wozu sonst im Postwagen über hundert Fächer oft nicht ausreichten! Selbstverständlich kam hier, beim gänzlichen Mangel an Fächern, Alles auf das Gedächtniß an. Sieben Stunden saß ich so, mit dem Oberkörper nach vorn gebeugt, und sortirte auf die mir gegenüberliegende Bank mit der höchsten mir erreichbaren Schnelligkeit. Es gelang mir, die Arbeit zu bewältigen. Als ich mich aber bei der Ankunft in Berlin aufrichten wollte, war mir dies unmöglich. In Folge des anhaltenden Krummsitzens in dem eisig kalten Wagen schien mein Körper der aufrechten Stellung nicht mehr fähig zu sein. Es dauerte lange, bis ich mich dieses besonderen Vorzuges der Menschheit wieder im vollen Umfange erfreute. Doch gern nahm ich diesen Uebelstand in den Kauf; hatte ich doch das Bewußtsein,

  1. Vorlage: „geänstigt“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 708. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_708.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)