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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

für uns alle handelte, nicht mit verdoppelten Kräften fortfahren, dies zu thun? Man richtet Bitten und Gebete an die Todten; der Manen- und Heroen-Cultus gewinnt bestimmtere Formen.

Unmittelbar darauf wird dieses bewegende Etwas in allen umgebenden Dingen gesucht, in dem Wasser, welches läuft, als ob es Beine hätte, im Feuer, welches brennt, als ob es mit tausend Nadeln stäche, in dem Blitz, der den Menschen erschlägt, plötzlich wie der Kämpfer mit seiner Streitaxt. Und da der Urbegriff von der Menschenseele als etwas Persönlichem ausgeht, so führt er von der einfachen Beseelung aller Dinge schnell zur Personification der in ihnen wirkenden Naturkräfte. Der Mensch glaubt zu finden, daß diese Seelen der andern Dinge viel mächtiger sind als die eigene; er bittet sie Alle, ihm gnädig zu sein, und wählt einen todten Gegenstand, eine Pflanze oder ein Thier, auf dessen Kraft er besonderes Vertrauen setzt, zu seinem höchsten Fetisch oder Totem. Es ist dieser Fetischismus und die Totem-Wählerei eine gemeinsame niederste Religionsstufe der ungebildeten Steinzeit-Völker, bei welcher die Unterordnung der eigenen Kraft unter die der andern Seelen überaus charakteristisch für die Schwäche ihres Schlußvermögens ist.

Eine Stufe höher, und aus der allgemeinen unheimlichen Besessenheit der gesammten Naturdinge im Einzelnen steigt gleichzeitig mit der Ausbildung des Heroen-Cultus die Vielgötterei (Polytheismus), die Religion der Bronzezeit, empor. Man kann sie eine Abstraction, eine Läuterung der vorigen nennen. Von nun an herrscht nicht in jedem Stein, in jedem Wässerchen und jeder Pflanze ein besonderer Geist als unumschränkte Macht, sondern diese Geister ordnen sich, wenn nicht gänzlich abgeschafft, allgemeinen Gottheiten der Erde, des Himmels, der Blumen, des Wassers, Feuers etc. unter. Die Naturgegenstände selbst sinken gleichzeitig auf den Werth von Symbolen der betreffenden Gottheiten herab, besonders das vordem an sich verehrte Feuer als das reine, leuchtende, nach oben strebende Symbol aller Gottheit. Nur die Thiere in ihrer stark ausgeprägten Individualität widerstrebten, ebeso wie die halb unsterblichen Bäume, so lange der Unterordnung unter eine abgeleitete Gottheit der Thiere oder Bäume, bis die Zeit dieser Götterschöpfungen vorüber war, und wurden dann nach einer langen Periode selbstständiger Verehrung den verschiedenen Göttern als Diener zuertheilt. Was die einzelnen Gestalten anbetrifft, so konnte der Mensch, wie er in diesem ganzen geistige Proceß von sich selber ausging, die Götter natürlich nur nach seinem eigenen Ebenbilde formen, und daher die bekannte Thatsache, daß die Götter Griechenlands schöne, aber in mancher Beziehung sehr menschliche Griechen waren, die Götter des Nordes kampf- und trinklustige Zechbrüder, und die Götter der Indianer vollkommene Wilde.

Allein weil sich der Mensch fortwährend umwandelte, durften die Götter nicht zurückbleiben, denn sonst wären sie ihm fremd geworden, und wie sich aus dem Chaos der allgemeinen Vergötterung der Natur begriffliche Göttertypen abgesondert hatten, so mußte diese durch Vergleichung in dem zunehmenden Verstande endlich zu dem Gottesbegriffe in seiner Reinheit führen. Man kann die Vorbereitung dieser dritten Abstraction am besten verfolgen, wenn man den Gestirndienst der zweiten Periode in’s Auge faßt. Alle irgend durch Besonderheit in’s Auge fallenden Himmelslichter, Sonne, Mond, Planeten und Fixsterne, wurden als Gottheiten betrachtet, die ersten Beiden den Andern natürlich voran. Zwischen diesen Beiden findet insofern eine Rangstreitigkeit statt, als in den heißesten Ländern, in denen die Sonne in ihrer Stärke das Land versengt und somit schadet, sie dem Monde, als dem milden Freunde der Menschen, den Platz des am meisten verehrten Gestirnes hier und da abtreten mußte. Bei der bei Weitem größeren Ueberzahl der Völker nimmt aber die Sonne den ihr gebührenden ersten Rang unter den Erscheinungen ein, welche die Phantasie anregen.

Je mehr der Mensch die Natur verstehen lernte, um so bestimmter mußte er sich sagen, daß ja alles Leben auf der Erde von den Strahlen der Sonne abhängt, und ebenso tief wie wahr lautet deshalb die Inschrift der vielbrüstigen Personification der nährenden Erde im Tempel der ephesischen Diana. „Tiefes Dunkel ist mein Dunkel – zur Sonne blick auf, die allein Leben giebt, strahlend!“ Ihr Kommen und Gehen mußte daher den Menschen der nicht, wie wir, in engen Straßen, sondern mehr in der Natur nach der Natur lebte, mächtig aufregen, er feierte sie in allen Erdtheilen als die vornehmste aller Gottheiten, als die wahre Wohlthäterin und Erhalterin der Erde wie des Menschen, und beging den Tag ihrer Wiedergeburt und Neuerstarkung (25. December) überall als das größte aller Jahresfeste. Und wenn wir aufrichtig sein wollen, so müssen wir sagen, daß nie ein Cultus gerechtfertigter war, als derjenige der Sonne, in deren Strahlen alle Kraft enthalten ist, welche die Erde von außen empfängt, durch die allein das Erdleben seine hohe Stufe erringen konnte und mit deren Verschwinden dieses gesammte Leben einem schleunigen Untergange zueilen würde, wie es jeden Winter theilweise geschieht. Wir können es fast schrittweise verfolgen, wie bei den meisten Völkern die Mitbewerbung anderer Phantasiebeherrscher um den Thron des Weltalls von der Sonne überwunden wird, so bei den Assyrern, Medern und Persern, den alten Aegyptern, Phöniciern und den nördlich wohnenden Indogermanen, den Peruanern und vielen anderen Völkern.

Den letztgenannten galt die Sonne denn auch folgerichtig als Weltschöpferin, und wahrscheinlich ist es in anderen Religionssystemen früher ähnlich gewesen. Allein nachdem nur überhaupt die Idee eines unumschränkten Götterkönigs, nach dem Bilde eines wohlwollenden, aber unbedingten Gehorsam verlangenden und über Leben und Tod gebietenden Häuptlings, aus dem Chaos der Vielgötterei hervorgetreten war – und dies scheint überall erst mit dem Beginne der Eisencultur geschehen zu sein – mußte auch die Sonne ihren Platz einem persönlichen Beherrscher der Götter und Menschen räumen und sich selber mit dem Range eines Symboles desselben begnügen. Wie aus dem ungeordneten Fetischismus der Steinzeit die übersichtlichere Vielgötterei der Bronzezeit, so ging durch fernere Begriffsverfeinerung aus dieser die Idee eines alleinigen und höchsten Gottes hervor, neben welchem die anderen Herrschaften nur noch wie Hofleute oder Fachminister fortbestehen konnten. Diese Thronbesteigung können wir bei den alten Indern, Aegyptern, Griechen, Römern und Germanen sehr gut verfolgen, bei den Chaldäern und Juden scheint die Unterdrückung der Mitbewerber am frühesten und vollständigsten stattgefunden zu haben. Natürlich wird dieses höchste Wesen nunmehr erst zur alleinigen Weltursache, zum Schöpfer, Erhalter und Regierer des Himmels und der Erde, und dem „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht“.

Aus unbestimmten, oft rohen und grotesken Mythen etwickelt sich ein immer mehr gereinigtes kosmogonisches (Weltentstehungs-) System. Während die älteren Versuche nicht über eine dem thierischen Zeugungsvorgange nachgebildeten Mythus einer Entstehung aus dem Weltei hinauskamen oder die Welt wie einen Kuchen einrühren und fertig backen ließen, auch die erforderliche Materie als ewig und vorhanden betrachteten, schritt die jüdische Lehre zu einer in ihrer durchgreifenden Weise annehmbareren Form voran und ließ die Welt aus Nichts und ausschließlich für den Menschen erschaffen. Die Erde ist als Mittelpunkt der Welt gedacht, Sonne, Mond und Sterne werden ihr als Zeittheilungs- und Beleuchtungskörper beigeordnet. An verschiedenen Schöpfungstagen wird der Luft, dem Wasser und der Erde aufgegeben, Pflanzen und Thiere hervorzubringen, wobei es als eine Unbedachtsamkeit des mosaischen Berichtes bezeichnet werden muß, daß er die Pflanzen, welche mehr als die Thiere des Lichtes bedürfen, vor den Himmelslichtern hervorkeimen läßt. Die Worte, mit denen der mosaische Schöpfungsbericht den Menschen auf die Bühne führt, sind nicht weniger bezeichnend für den Dünkel dieses Volkes, welches sich das auserwählte nannte, als für die anthropomorphische (den Gott vermenschlichende) Natur der Religion überhaupt. Denn nicht nur läßt er mit vollem Rechte die Krone der Schöpfung nach Gottes Ebenbilde schaffen, sondern mit der ausdrücklichen Bestimmung, über die Thiere und Pflanzen zu herrschen. Man glaubt zwischen den Zeilen zu lesen, auch über die anderen Menschen, die sich etwa einfinden könnten. „Aber mußte dieser gottähnliche Adam und seine nacherschaffene Gehülfin nunmehr nicht vollkommen unsterblich und sündlos wie Gott selbst sein?“, so grübelte der im Unterscheiden immer mehr fortgeschrittene Bildner der Schöpfungsmythe weiter, und nicht weniger tiefgehende Zweifel erregten die Unvollkommenheiten des Daseins, die giftige Pflanzen und schädlichen Thiere und vor Allem die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_711.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)