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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Heute Morgen hatte unsere Gebieterin, die noch in ihrer üblen Laune beharrt, in Toilettenangelegenheiten eine lange Berathung mit ihrer Zofe und Näherin; später war Besuch da, ich fand also den geeigneten Augenblick zu der beabsichtigten Unterredung nicht. Der Nachmittag kam. Iwan Alexandrowitsch fuhr aus, Olga gab ihre Stunden, und ich konnte daher auf ein ungestörtes Beisammensein mit Zenaïde Petrowna rechnen, welches jedenfalls nicht unbenutzt vorübergehen durfte. Ich unterdrückte mit aller Festigkeit des Willens, die mir nur irgend zu Gebote steht, das gewaltsame Klopfen meines Herzens, als ich bei ihr eintrat und sie in möglichst freiem Tone bat, mich einen Augenblick in einer Angelegenheit zu hören, die mich in den beiden letzten Tagen sehr beschäftigt habe.

Sie sah mich befremdet und nichts weniger als ermuthigend an, aber ich war fest genug, um mich nicht einschüchtern zu lassen. Ich sagte ihr, daß ich an dem Ballabende Fräulein Adrianoff gesehen, die mir mitgetheilt, sie habe am Sonntage ein Billet an mich gesendet. „Dieses Billet nun,“ fügte ich hinzu, „ist sonderbarer Weise nicht in meine Hände gelangt.“

Madame Branikow zuckte leicht die Achseln und warf mir einen Blick zu, der, in Worte übersetzt, ungefähr lauten mußte: „Was geht das mich an?“

„Fräulein Adrianoff,“ fuhr ich unbeirrt fort, „schien sehr bestürzt, Madame, als sie das Nichtankommen des erwähnten Briefes erfuhr, sie bat mich, Nachforschungen anzustellen. Sie weiß bestimmt, daß eine alte Dienerin ihrer Familie den Brief hier im Hause abgegeben.“

Zenaïde Petrowna erwiderte mit schlecht verhehlter Ungeduld: „Aber was kümmert Ihre Correspondenz mich?“

Ich fühlte, wie eine leichte Röthe mir in die Wangen stieg, aber ich zwang mich zu der vollkommen ruhigen Antwort: „Madame, es liegt mir viel an dem Briefe, und da er vielleicht in meiner Abwesenheit angekommen ist, könnte er möglicher Weise an Sie oder Iwan Alexandrowitsch abgegeben und, wie sehr leicht erklärlich, vergessen worden sein. Sie sehen in dieser Vermuthung die Ursache meiner bescheidenen Anfrage.“

Zuerst überflog bei meinen Worten ein spöttisches Lächeln die Züge der Hausherrin, dann jedoch preßten sich ihre Lippen fest zusammen. „Ich weiß von keinem Briefe,“ erwiderte sie, mußte aber doch, als sie die Lüge aussprach, unwillkürlich ihre Blicke vor den meinigen senken. Meine innere Empörung war grenzenlos, aber ich wußte nur zu gut, daß ein Kundgeben derselben die letzte Hoffnung, jemals das unglückliche Papier in meine Hände zu bekommen, vernichten würde.

„Wenn der Brief nicht abgegeben ist,“ begann ich wieder, „so muß Jemand von den Leuten ihn nachlässiger Weise bei Seite gebracht haben, und da die vorläufige Nachfrage meinerseits kein Resultat ergeben hat, so möchte ich freundlich die Bitte an Sie richten, Madame, den Haushofmeister kommen zu lassen und ihm zu befehlen, daß er das verlorene Billet wieder zur Stelle schafft. Wenn Sie ihm Ihren Willen kund thun, so wissen Sie, Madame, daß er das Verlorene an’s Tageslicht bringen wird, wenn es noch irgendwo existirt.“

Zenaïde Petrowna hatte sich schon, während ich sprach, müde zurückgelehnt, schloß langsam die Augen und sagte gähnend: „Es kann Ihnen doch nicht im Ernste einfallen, Mademoiselle, daß ich um die genannte Bagatelle einen solchen Aufruhr anrichten soll. Fräulein Adrianoff mag in Zukunft mein Haus, welches sie nicht mehr der Ehre ihres Besuches würdigt, auch mit ihren Briefen verschonen. Das ist es, was ich von dieser Angelegenheit denke. Ah, wie erschöpft ich mich fühle!“

Nach dieser für sie unverhältnißmäßig langen Rede machte sie ein Gesicht, das allerdings den Entschluß, jetzt kein Wort mehr zu hören oder zu sagen, deutlich genug verrieth.

Ich bebte vor Aerger. Ich hatte gehofft, sie würde das Papier, da es unversiegelt gewesen und also unverletzt wieder herzustellen war, nachdem sie ihre Neugier befriedigt hatte, mir in die Hände spielen oder wenigstens es zu einer offenen Erklärung darüber kommen lassen. Beide Hoffnungen schienen durch ihr Leugnen gänzlich vereitelt, ich war jedoch nicht gesonnen, mich in solcher bisher niemals gegen mich in Anwendung gebrachten Weise abfertigen zu lassen, und erneute meine Bitte noch entschiedeneren Tones als zuvor.

Madame richtete sich empor und kniff den Mund unheilverkündend zusammen, während es an ihren Schläfen seltsam zuckte. Dann öffneten sich bereits ihre Lippen, wahrscheinlich um mir eine Beleidigung mehr zuzuschleudern, vielleicht aber auch, um mir den Inhalt von Wéra’s Billet brutal vorzuwerfen, als plötzlich einer von den Dienern erschien und hastigen Tones eine Meldung begann. Er wurde indessen, noch bevor er sie zur Hälfte beendet hatte, von dem anzukündigenden Besuche in Person unterbrochen und bei Seite geschoben. Es war Kleopatra Feodorowna Ostrowski, die sich, ohne eine Aufforderung zu erwarten, in den nächsten Sessel warf, völlig außer Athem und so echauffirt, als hätten wir anstatt strenger Januarkälte die Hitze des Hochsommers zu ertragen.

Ich konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, als ich die alte Neuigkeitskrämerin erkannte, von der ich wußte, daß sie keinen anderen Lebensberuf hat, als alle möglichen und unmöglichen Klatschgeschichten aus einem Hause in das andere zu tragen, und daß wir sie in mindestens einer oder gar zwei Stunden nicht wieder würden los werden.

„Ah, Duschinka, wie geht’s?“ richtete sie, noch immer zwischendurch nach Luft schnappend, das Wort an unsere Gebieterin. „Sie glauben nicht, welchen Schreck ich gehabt habe! Denke ich doch, mich soll auf der Stelle der Schlag rühren! Sie müssen wissen,“ fuhr sie dann, nochmals tief Athem schöpfend und nachdem sie sich in dem Sessel behaglich zurecht gesetzt, fort, „ich komme geraden Weges von den Adrianoffs.“

Mich durchfuhr bei ihren Worten ein Schreck, daß mir die Kniee bebten, und auch Madame richtete ungewöhnlich rasch die Frage an ihren Gast:

„Von den Adrianoffs?“

„Ja doch, Zenaïde Petrowna, eben daher. Aber Gott segne meine Seele, Kind – ich glaube, Sie wissen noch gar nicht, was geschehen ist.“

„Nun, was denn? Was ist geschehen? Sie wollen es uns ja eben mittheilen,“ rief die Herrin des Hauses ungeduldig, während ich unwillkürlich, stumm vor Angst, der Alten einen Schritt näher trat.

Glücklich über unsere Unwissenheit, fühlte sich Kleopatra in ihrem Elemente. Sie schüttelte den Kopf, faltete die Hände und fragte dann langsam. „Sie waren doch Dienstag in der Assemblée?“

„Gewiß waren wir da, und was weiter?“

„Und Sie haben Wéra gesehen?“ fuhr sie fort. „Das arme Seelchen! Sie soll so schön gewesen sein, wie fast noch nie, aber die Heiligen mögen wissen, was ihr widerfahren ist. Einige behaupten, der Capellmeister habe sich mit dürren Worten von ihr losgesagt, und Andere wieder, Constantin Feodorowitsch habe diesen bis auf den Tod beleidigt und beschimpft. Eins aber ist sicher, daß Wéra, nachdem sie wie eine Rasende getanzt, ohne Wissen ihres Bruders hinaus geeilt und sich glühend, wie sie war, mit den leichten Ballschuhen und unbedecktem Kopfe in einen offenen Schlitten gesetzt hat – wir hatten in der Nacht zwanzig Grad Kälte, wie Sie wissen, meine Liebe – und nicht genug damit: als das Unglückskind nach Hause kommt, reißt es die Fortischka auf, stellt sich im Ballcostüm davor und sagt den erschrockenen Dienern nur immer das eine Wort. ‚Laßt mich! Ich will sterben.‘ Mit Gewalt mußte man die Arme endlich fort und in’s Bett bringen. Sie können denken, daß die Folgen nicht auf sich warten ließen. Gestern schon hat die arme Seele den ganzen Tag im heftigsten Fieber zugebracht, und als ich heute arglos komme, sie zu besuchen, war eben das Delirium ausgebrochen. Ihr Kopf brannte wie Feuer, und sie schwatzte die tollsten Dinge. Nun stellen Sie sich vor, daß die Eltern noch Beide abwesend sind, wenn auch Madame Adrianoff täglich erwartet wird. Der Zustand im Hause ist ein entsetzlicher, und Constantin Feodorowitsch benimmt sich vollständig wie ein Unsinniger. Glauben Sie wohl, daß er mich, als ich ihm ein theilnehmendes Wort des Bedauerns sagen wollte, beinahe vor die Thür gesetzt hat?“

Sie gerieth bei Erwähnung der ihr von Wéra’s Bruder ihrer Meinung nach widerfahrenen Rücksichtslosigkeit fast in die nämliche Aufregung wie bei ihrer Ankunft. Bei der Berührung von Wéra’s unbegreiflicher Erregung auf dem Balle traf mich ein angstvoller Blick Zenaïde Petrowna’s, den ich in gleicher Angst erwiderte, und diese stumme Sprache verrieth

Alles, was unsere Lippen nicht wagten auszusprechen – tödtlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_715.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)