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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Weite, zum Theil einen Ausblick in unbegrenzte Fernen bietend. Drei mächtige Alleen laden zum Eintritt in den Prater, in welchen man nur wie durch ein Pförtchen gelangen kann, denn quer vor den Eingängen führt ein Viaduct der Nordbahn vorbei, unter welchem man erst durchschlüpfen muß, ehe man in den Prater selbst gelangen kann. Zum Glücke kann man das Durchschlüpfen mit erhobenem Haupte und in sehr großer Gesellschaft besorgen; es geht nicht gar zu enge zu. Betreten wir von den drei Alleen zuerst die rechtsseitige, d. h. die Hauptallee, im Volksmunde der „Nobelprater“ genannt! Ein menschliches Auge vermag das Ende dieser Baumreihen nicht abzusehen. Die von den Kronen mächtiger, Jahrhunderte alter wilder Kastanienbäume gebildete Wölbung verjüngt sich perspectivisch, bis sie mit dem Horizont zu verschmelzen scheint. Zu beiden Seiten der sehr sorgfältig gepflegten Fahrstraße, und durch breite Gräben, von ihr geschieden, ziehen sich Alleen für Reiter und Fußgänger hin. Und so sieht man denn im Nobelprater bei nur halbwegs günstiger Witterung Alles zu Fuß, zu Pferde oder auf Wagen vertreten, was nicht durch Krankheit oder Geschäfte an die dumpfe Stube gekettet ist. Es giebt unendlich viele Menschen in Wien, die immer Zeit haben. So kommt es, daß der Prater eigentlich nie leer ist, er hat sogar seine Liebhaber, deren Gefühle auch dann nicht erkalten, wenn die Bäume von Eis oder Schnee starren.

Den Glanzpunkt im Leben des Nobelpraters bildet alljährlich der 1. Mai, mit der berühmten Praterfahrt, auf welche der Wiener nicht wenig stolz ist und die jedenfalls eine der sehenswerthesten Specialitäten der heiteren Kaiserstadt an der Donau vorstellt. In jedem Hause, wo man es thun kann, wird die schönste Familienkalesche herausgesucht und auf den Glanz hergerichtet zu diesem Ereignisse. Der wirkliche „Gawlier“ und der über Nacht aufgeschossene Börsenbaron, der reiche Bandfabrikant vom Brillantengrund, und die Fleischhacker und Selcher von allen Gründen rivalisiren da mit dem Glanze, den sie und den ihre Gattinnen und Töchter zu entfalten in der Lage sind. Sie Alle aber werden geschlagen von jenen armen Geschöpfen, jenen unglücklichen Evastöchtern, bei denen die Toilette Alles ist und doch nichts weiter, als das Firmenschild, um den Käufer zu locken. In endloser Reihe rasseln die prunkvollen Equipagen an mehr als hunderttausend Spaziergängern vorbei, die ihrerseits Kritik üben an den Staatscarossen, den Lakaien, den Pferden und den Insassen.

Welch ein buntes, welch ein bewegtes Bild! Die höchsten Spitzen der Gesellschaft in fast unmittelbarer Berührung mit den untersten Ausläufern derselben. Privatcarossen werden vom Zuschauerpublicum noch einer fachmännischen Kritik unterzogen, ebenso ihre Insassen; Fiaker werden schon mit einem Achselzucken aufgenommen, während Comfortables (Einspänner) der höhnischen Vernichtung grundsätzlich ausgesetzt sind. Das demokratische Bewußtsein der Menge lehnt sich auf dagegen, daß Jemand sich in so einem „Krippeng’spiele“ an der Praterfahrt betheilige; er soll doch, wie wir Alle es thun, die Praterfahrt zu Fuße mitmachen, wenn er sich nicht mindestens zwei Pferde leisten kann. Mit einigen Abschwächungen bietet der Prater nach dem 1. Mai bis in den Hochsommer hinein täglich dasselbe glänzende Bild. Das Endziel des Nobelpraters ist das sogenannte Lusthaus. Da kehren Reiter, Equipagen und Fußgänger, wenn Letztere sich so weit vorgewagt haben, da es doch eine gute Stunde vom Eingange in den Prater liegt, wieder um.

Unser Künstler hat uns in trefflicher Zeichnung dieses Endziel veranschaulicht, und zwar gerade in einem Momente, in welchem unsere Kaiserin, die schönste Frau im weiten Oesterreich, die jugendlichste der Großmütter und unter diesen sicher die kühnste Reiterin, mit ihrem Sohne, dem Kronprinzen Rudolf, es kaum erreicht hat und schon wieder verlassen will. Der berittene Sicherheitswachmann hat während der belebten Saison seinen stehenden Posten hier, um keine Unordnung in dem lebhaften Wagenverkehr eintreten zu lassen. Das Lusthaus ist ein Pavillon, nach welchem im vorigen Jahrhunderte der kaiserliche Hof Ausflüge zu unternehmen pflegte, und in welchem er sich dann allerlei Lustbarkeiten ergab. Der Prater selbst ist kaum seit hundert Jahren dem Volke zugänglich. Früher rollten nur kaiserliche Gespanne und höchstens solche adeliger Geschlechter zwischen seinen Baumriesen dahin, und hier war es, wo die humane Erfindung der herrschaftlichen „Lauffer“ zur vollen Entwickelung gelangt ist. Ein solcher „Lauffer“ hatte in einer schönen Livrée, auf welche er stolz sein konnte, vor der Equipage seiner Herrschaft zu laufen.

Fußgänger kommen, wie schon angedeutet, in der Regel nur in geringer Anzahl bis zum Lusthause, denn auf dem Wege dahin befinden sich das erste, das zweite und das dritte Kaffeehaus. Drei gewaltige Gartenetablissements für viele Tausende von Gästen berechnet, die von Weitem schon durch den dröhnenden Schall der Militärmusik herbeigelockt werden. Kaffeehaus! ein verschämter, aber unrichtiger Name. Es fällt keinem Menschen ein, da Kaffee zu trinken; da wird männiglich Bier, viel Bier, sehr viel Bier getrunken.

Wenden wir uns nun in die mittlere unter den drei in den Praterstern mündenden Alleen! Die Riesendame, der Kraftmesser, die Elektrisirmaschine, das Ringelspiel, die Schaukel, die Schützenstände (jeder Schuß zwei Kreuzer), die Thierbändigerin, die ägyptische Jungfrau, die das Wahrsagen versteht, der Kasperl, die Museen für „Kunst und Wissenschaft“, die Stereoskopenbuden, die Maschinen zur sinnreichen Erforschung des Körpergewichtes, die Kuh mit sechs Füßen, der Hippodrom, die italienische Operngesellschaft, die auf dem Seile zu tanzen versteht und die sich lediglich darum eine Künstlergesellschaft nennt, weil sie auf ihren Gesang selbst nicht viel hält, weiße Mäuse, dressirte Flöhe, lebende Bilder, der große Haifisch, der kleinste Zwerg, der echte Patagonier – sie Alle sagen uns, daß wir jetzt im „Wurstelprater“ sind. Der „echte Patagonier“ ist seinen Kunstgenossen ein gefährlicher Concurrent. Geben Sie ihm noch ein Douceur, so beißt der „echte Patagonier“ einer Taube den Kopf ab zum Beweise seiner Echtheit. Der „echte Patagonier“ saß mir einmal im Stellwagen gegenüber; er war schmutzig, aber europäisch gekleidet und handhabte den Lerchenfelder Dialekt mit erstaunlicher Routine. Er war sehr herablassend und gütig gegen mich, und als ich mich trotz alledem nicht auf das Vergnügen seiner Bekanntschaft entsinnen konnte, schlug er mich cordial auf die Schulter und sagte stolz: „Kennen’s mi no nit? Ich bin ja der Patagonier vom Prater!“ Ich kannte ihn freilich noch immer nicht, allein ich war stolz auf diese Bekanntschaft.

Ohrenzerreißend, sinnebetäubend ist der Spectakel, der im Wurstelprater geschlagen wird. Jede der hundert und aber hundert Hütten, welche diese pyramidale Merk- und Sehenswürdigkeiten enthalten, hat ihren eigenen Ausrufer, einen Rufer im Streite, der mit glühendem Eifer seine Nachbarn zu überschreien bemüht ist. O du grundgütiger Himmel, und wie schreien diese Leute! Ich glaube, sie können es sogar auf der Börse nicht besser. Mit dem Schreien ist es aber noch nicht einmal abgethan.

Nirgends zeigt sich die Unerschöpflichkeit der menschlichen Phantasie in verblüffenderem Lichte, als hier in der Verschiedenartigkeit der Lärminstrumente, durch welche die Welt gefesselt werden soll. Die meisten dieser Instrumente wurden freilich mit einem allerdings nur schwach durchschimmernden musikalischen Hintergedanken angefertigt, aber bei Leibe nicht alle. Da z. B. ist in einer Hütte ein Wolf zu sehen, das ist nicht viel, aber man muß nur verstehen aus einem Wolfe etwas zu machen. Zunächst hängen vor der Hütte gewaltige Gemälde, die der Welt zeigen, was sibirische Wölfe zu leisten im Stande sind, wenn sie hungrig sind und ihnen ein Schlitten mit Reisenden in den Wurf kommt. Wirken schon diese Gemälde aufstachelnd auf das Gemüth der neugierigen Menge, so werden wir doch geradezu von einem gelinden Schauder erfaßt, wenn wir aus der Hütte heraus das Geheul von hundert Wölfen hören. Der Eigenthümer des einen in der Hütte gemächlich schlafenden Wolfes hat sich eine große Orgel bauen lassen, die, anstatt der ihm fehlenden Wölfe, das Geheul ausstößt. Die Orgel ist in ihrer Art ein Kunstwerk, und selbst geübte Ohren kommen im ersten Augenblicke nicht auf die Täuschung.

Auf jede Schaubude fast kommt ein Wirthshaus. Da fliegen die Kellner, und da überstürzen sich, mit langen Messern herumfuchtelnd, die „Italiener“, die den Gästen unter unaufhörlichem Rufen: „Salamucci, Salami, Salamini duci, duci!“ Veroneser und Ungarischen Salami und Schweizer Käse verkaufen. Sie werden von den Wirthen geduldet, ja gern gesehen, weil die Leckerbissen, die sie verkaufen, dursterregend sind. Die Wirthshäuser haben durchweg poetische Namen und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_734.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)