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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


werden: das warme Lebenslicht der deutschen Forschung. Von der Oberfläche verscheucht, arbeitete der Gedanke mit um so größerer Inbrunst auf den tiefer liegenden Gebieten der ernsten Wissenschaft, und erzeugte hier eine jugendfrische, von neuen Standpunkten des Denkens, neuen Methoden des Prüfens ausgehende Bewegung, die weithin die Seelen in ihre Kreise zog und die Keime einer Empörung in sich trug wider alle Knechtschaft und Unterdrückung. Ein Geist des Widerspruches war in den Reihen der Denkenden erwacht, aber er befand sich noch im Zustande der Verschwommenheit, des unklaren Zusammenhanges mit den despotischen Mächten, von denen er sich losringen wollte. Vergegenwärtigen wir uns jetzt das

David Friedrich Strauß auf dem Todtenbette.
Nach einer photographischen Aufnahme.

Regen dieser merkwürdigen Dreißiger Jahre, so müssen wir uns sagen: überdeckt von unerträglichen Zuständen gährte in ihrem Schooße das Feuer eines großen Umschwunges der Gedanken, sie waren jedoch noch von einem Zittern beherrscht vor der Gefährlichkeit ihrer eigenen und nächsten Folgerungen. Die Zeit war ideen- und bewegungsschwanger, aber es fehlte ihr der selbstvertrauende Muth, und gleichsam unbewußt harrte sie eines Wortes, das den einschnürenden Zauber lösen, einer That, welche dem dunklen Drange nach Befreiung seine Ziele weisen sollte. Dieses Wort hat Strauß gesprochen, diese That hat er 1835 in seinem „Leben Jesu“ vollzogen.

Wer dieses Buch niemals in der Hand gehabt, möge sich keine irrige Vorstellung von demselben machen. Es ist keine Spur einer publicistischen Absicht, eines Angriffes auf bestehende Einrichtungen des Staates oder der Kirche darin; es ist eine streng gelehrte, streng nur innerhalb der gelehrten Forschungsinteressen sich bewegende Arbeit. Auch das Leben Jesu erzählt es nicht, sondern unterwirft nur die biblischen Erzählungen und Mittheilungen über dieses Leben einer erneuerten Besichtigung und Prüfung. Unbefriedigt und abgestoßen von den gezwungenen und abgeschmackten, oft sogar recht heuchlerischen Deutungen der damaligen Rationalisten, die sich unablässig bemühten, die in jenen Berichten enthaltenen Wundergeschichten als natürliche Vorgänge zu erklären, war Strauß durch seine Untersuchungen zu einem ganz anderen Einblick, einer ganz anderen Erkenntniß gekommen: er entdeckte, daß wir es in jenen evangelischen Erzählungen gar nicht mit Geschichtsurkunden aus der Zeit und Umgebung Jesu zu thun haben, überhaupt nicht mit Geschichtsbüchern im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Nicht Erzählungen wirklicher Ereignisse, thatsächlich so geschehener Vorgänge seien uns in diesen neutestamentlichen Schriften überliefert, sondern nur Erzeugnisse der dichtenden Volksseele, Aufzeichnungen der Vorstellungen, Sagen und Mythen, wie sie im Bewußtsein der urchristlichen Gemeinden über die Person, die Erscheinung und den Tod ihres Stifters allmählich sich gebildet hatten, und wie sie von den Verfassern der vier Evangelien bereits in der Gemeinde vorgefunden und aus der mündlichen Ueberlieferung in gutem Glauben aufgenommen wurden. Daraus erklärt Strauß das Wunderhafte und Uebernatürliche dieser Geschichten, daraus auch ihre vielfachen unlösbaren Widersprüche, ihr durchgreifendes Abweichen von allen bekannten Gesetzen natürlichen Geschehens, daher ihre so genaue Uebereinstimmung mit jenen Prophezeiungen des Alten Testaments, in denen das zukünftige Erscheinen des Messias verkündigt und im Voraus beschrieben wird.

Der Gedanke, welcher dieser Betrachtungsweise zu Grunde lag, war an sich selber kein neuer; er lag gleichsam in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 737. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_737.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)