Seite:Die Gartenlaube (1875) 751.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Die junge Dame schritt, Muth fassend, weiter; Marianne ein wenig dichter hinterdrein. Der Fremde stand, als ob er sie mit scharfem Auge fixirte und ihr Herankommen abwartete. Es war eine hochgewachsene Gestalt mit gebräunten Zügen und einem damals von Civilisten noch nicht getragenen Schnurrbarte, seine Tracht aber war die bürgerliche eines Mannes von Stand, von einer gewissen Sorgfalt zeigend und modischen Schnittes, was am meisten dazu diente, der Prinzessin Sorge um diese plötzliche Begegnung zu entfernen. So kam sie bis dicht an das Drehkreuz. Der Fremde richtete sich aus der gebückten Stellung, worin er sich darauf gestützt hatte, auf, und ihr ein paar Schritte entgegentretend, sagte er, indem er die junge Dame eigenthümlich fixirend beobachtete, in einem Tone, der etwas Brüskes hatte:

„Geht der Weg nach Stockheim hier oder dort hinaus?“

Sei es, daß es in dem Klange des Organs, oder daß es in einem Tone der Anrede lag, wie die Durchlaucht ihn von Denen, welche sie umgaben, nicht gewohnt war – sie erschrak von Neuem heftig dabei und fühlte ihren Muth auf eine arge Probe gestellt. Der Weg nach Stockheim war derselbe, den sie zu wandern hatte. Antwortete sie das dem Fremden, so hatte sie den unbekannten Menschen zum Begleiter. Dabei war es schwer, ihm die Bürde zu verbergen, unter der Marianne einherschritt. In diesem öden stillen Walde, worin man auch keiner Menschenseele sonst noch zu begegnen hoffen durfte! Die Prinzessin warf ihrer Begleiterin einen Blick der Angst zu. Warum sprach diese einfältige Marianne nicht, warum hatte sie nicht die Geistesgegenwart, rasch zu antworten: „Der Weg nach Stockheim ist der, den wir gekommen sind. Folgen Sie ihm nur geradeaus!“?

Aber nein, Marianne sah nur ganz erschrocken stumm darein und überließ es ihrer Prinzessin, die Antwort zu geben. Diese versetzte mit einem Stoßseufzer und einem scharfen Blicke in des Mannes Gesicht:

„Der Weg nach Stockheim ist dieser, den wir gehen.“

Sie konnte nicht anders. Als Prinzessin durfte sie nicht lügen. Sie hätte es auch gar nicht gekonnt, wenn sie gewollt hätte.

Zum Glücke gab ein Blick in die Züge des Fremden ihr eine gewisse Beruhigung darüber, daß er doch wohl, wenn er auch mitten im Walde vor ihnen auftauchte, nicht unmittelbar sich mit einem räuberischen Angriffe auf ihren kostbaren Transport trug. Er war etwa dreißig Jahre alt, wenigstens so gebräunt und von Wind und Wetter mitgenommen, daß man ihn dafür halten mußte; seine Züge waren männlich und edel geschnitten, die Schläfen stark eingedrückt, was dem Gesichte ein sehr langgezogenes Oval gab, und aus seinen blauen Augen, unter den breiten, fast immer halbgeschlossenen Lidern her, blickte ein scharfer, kluger Geist. Es schaute etwas Forschendes, Verschlossenes und sehr Selbstbewußtes aus diesem Kopfe, dessen Studium fesseln mußte, wenn er auch nicht verhieß, daß der Charakter dieses Mannes anziehen müsse – eher mußte ein junges Mädchen, wie unsere Prinzessin, die Empfindung haben, der melancholische und weltverachtende Zug, der auf seiner Lippe lag, sei etwas, das man fürchten müsse, weil es am Wehthun Freude zu haben schien.

Das Alles sah die Prinzessin freilich nicht auf den ersten forschenden Blick, den sie in seine Züge geworfen; sie beobachtete es, während er jetzt neben ihr blieb, mit ihr sprach und dabei so merkwürdige Dinge sagte, daß sie nicht anders konnte, als zuweilen mit einem Seitenblicke nach der Miene aufzuschauen, die er dabei machte.

„Sie müssen sich also, da wir denselben Weg haben, schon meine Begleitung gefallen lassen,“ hatte er ihr geantwortet.

Da sie geschwiegen, hatte er, neben ihr fortschreitend, gefragt:

„Diese Wälder sind schön. Wer gehört ihnen?“

Sie blickte zu ihm auf.

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Ich meine, wer der unglückliche Glückliche ist, den diese weiten Forsten als Besitzer festhalten und sich mit ihrem Schutze gegen Holzdiebe und Wilderer zu plagen zwingen?“

„Ah, so meinen Sie es!“ antwortete lächelnd die Prinzessin.

„Nun ja, so meine ich es. Der Mensch gehört viel mehr den Dingen als die Dinge dem Menschen. Finden Sie es nicht lächerlich, wenn irgend eine schwächliche gebrechliche Menschengestalt durch den Wald oder über die Flur schreitet und glaubt, das Alles gehöre ihr? Just als ob die Raupe, die über ein Eichenblatt kriecht, spräche: dieser Baum ist mein. Die Araber haben ein Sprüchwort: Wenn der Hahn kräht, glaubt er, die Sonne ginge seinetwegen auf. Die Wälder, die Fluren, die Güter, das Alles steht noch nach tausend Jahren so, wenn der Mensch, der um seiner Nahrung willen an sie gefesselt und gekettet war, wie die Raupe an ihr Eichenblatt, längst da ist, wo Raupe und Blatt sind.“

„Was thut das,“ antwortete die Prinzessin jetzt, „der Mensch bleibt doch Herr über sein Eigenthum, wenn er auch sterben muß; nach ihm kommt der Sohn, die Familie – –“

„Um in demselben Banne zu liegen. Die Wälder werden – Sie haben nur keine Auskunft darüber gegeben – dem Fürsten von Idar gehören; können Sie leugnen, daß er ein armer Mann ist, der durch seinen Besitz an sein winziges Städtlein, an seine unwohnliche alte Väterburg mit schauerlich kalten zugigen Corridoren und ungemüthlichen weiten, schlechtbeleuchteten Gemächern, mit breiten, ungesunden Wasserflächen als Gräben umher, gefesselt ist, und daß tausend Bande mit viel Verdruß und wenig Genuß ihn an diesen Besitz fesseln, dem er gehört und der ihn nicht fortläßt? Versetzen Sie sich in die Seele eines solchen beneideten Eigenthümers! Denken Sie, wie er an dunklen Regentagen in einer der tiefen, durch die plumpen alten Burgmauern gebrochenen Fensterbrüstungen steht und den bleiernen Himmel anstarrt, die melancholischen Windesstimmen um seine Thürme blasen hört! Meinen Sie, solch ein Mensch hätte nicht auch ein Gemüth? Nicht eine Sehnsucht nach lichten, schönen, sonnigen Fernen? Aber seine Burg, seine Wälder, seine Wiesen, seine Torfmoore, seine Schäfereien, seine räucherigen Pachthöfe haben ihn und lassen ihn nicht los. Und neben ihm, in den anderen Fensterbrüstungen sitzen blassen Antlitzes mit von langer Weile abgespannten Zügen, blauen Streifen unter den matten Augen seine drei oder vier unverheiratheten Töchter, die trägen Hände über unnützen Stickereien oder Häkeleien in ihrem Schooße gefaltet. Auch sie blicken zu dem bleiernen Himmel, dessen Wolken ihnen die Ferne umhüllen, wie ihres Lebens Hoffnungslosigkeit ihnen ihre Zukunft grau verhüllt, empor; auch sie horchen auf das melancholische Wehgeheul des Windes – glauben Sie, in diesen armen Mädchen pulsirte nicht auch der Lebens- und Glücksdrang, die Sehnsucht nach Glanz und Liebe, nach einem freien Sein unter freien Menschenseelen? Glauben Sie, diese armen gefangenen Wesen möchten nicht auch gern so lustig, muthwillig und lebensfroh aus den Augen blicken, wie in diesem Augenblicke Sie mit Ihren glänzenden Augensternen thun, mein werthes Fräulein?“

Die Prinzessin hatte anfangs, leicht erbleichend, sich sehr versucht gefühlt, über diese Reden des wunderlichen Philosophen an ihrer Seite empört zu werden; dann hatte es sie zu ergötzen begonnen, und jetzt, bei dieser direct persönlichen Wendung seiner Predigt brach sie in ein lautes fröhliches Gelächter aus.

„Nun,“ sagte er, „Sie lachen über diese armen Wesen, die in ihrem alten Schlosse festsitzen, weil sie ihm gehören, weil das Eigenthum sie zwischen seinen eisernen Stangen festgeklammert hält. Sie sollten nur einmal solch eine unglückliche, weder der Welt noch sich selber nützende Prinzessinnenexistenz führen – nur einmal ein Jahr lang.“

Die Prinzessin lachte abermals laut auf und wandte sich dann mit einem höchst verschmitzten Blicke und den Finger auf den Mund legend zu ihrer Begleiterin um.

Marianne sah sehr bestürzt aus und lächelte jetzt doch auch.

„Wo haben Sie solche Prinzessinnenexistenzen studirt, wenn man fragen darf?“ sagte die junge Dame dann.

„Ich bin schon durch manche Hütte und manches Fürstenhaus hindurchgegangen,“ versetzte der Fremde sehr ernst.

„Und,“ fiel die Prinzessin ein, „haben Sie beim Durchgang durch eines dieser Fürstenhäuser sich nie versucht gefühlt, eine dieser sehnsüchtig schmachtenden Seelen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien und in die Freiheit mit hinauszunehmen?“

„Nein,“ sagte der Fremde schmerzlich lächelnd, „denn ich selbst bin nicht frei.“

„Nicht frei, verlobt?“ fuhr die Prinzessin fort, die mit diesem seltsamen Menschen nun vollends schon im Tone des neckenden Spottes glaubte reden zu können.

„Verlobt? Nein. Aber mein Herz ist gefangen; es liegt im Zauberbanne eines einzigen Blickes, der mir einst wurde

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 751. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_751.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)