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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Er war des jungen, achtzehnjährigen Fürsten Gast nicht blos, er war sein Freund, sein Bruder. Sie aßen zusammen, oft schliefen sie in demselben Zimmer, bisweilen Goethe mit im Fürstenhause, später bisweilen der Herzog in Goethe’s Gartenhause, und beide verband das traulich-brüderliche „Du“. Und wie Goethe von ihm herzlich aufgenommen wurde, so vom ganzen Hofe, namentlich auch von der achtzehnjährigen Herzogin Louise und von der erst sechsunddreißig Jahre alten, lebensheitern, kunstliebenden Herzogin-Mutter Amalie. Seine glänzenden Talente, sein frisches, geistsprudelndes Wesen und seine Ausgelassenheit rissen Amalien vom ersten Augenblicke an hin, und einige Monate später trat sie in einem Briefe an den Minister von Fritsch als beredte Vertheidigerin von Goethe’s Talenten, seinem Genie, von seiner Moral, seiner Religion auf, „welche die eines wahren und guten Christen sei, welche ihn lehre, seinen Nächsten zu lieben und es zu versuchen ihn glücklich zu machen.“

Bald war er, wie er selbst in einem Briefe vom 22. November bemerkte, im Treiben und Weben des Hofes, und da ihm zur Uebertäubung des geheimen Schmerzes um Lili Zerstreuung Bedürfniß war und das Hofleben ihm zugleich Gelegenheit zu Studium von Leben und Menschen gab, stürzte er sich, seinem Genius vertrauend, in den Strudel der buntesten Vergnügungen. Er that es nach seiner Art, im Style der Sturm- und Drangperiode, rücksichtslos und unbekümmert um das „Geträtsch“ und Nasenrümpfen des sittsamen Weimarischen Publicums. Wohl mag die Bemerkung des guten Wieland in einem Briefe an Merck vom Jahre 1776 nur Wahrheit sein: „Goethe hat freilich in den ersten Monaten die Meisten (mich niemals) oft durch seine damalige Art zu sein skandalisiert und dem diabolus prise über sich gegeben.“

Im Zimmer des ihm befreundet gewordenen Friedrich Justin Bertuch (des Uebersetzers von „Don Quixote“, nachmals Begründer des Landes-Industrie-Comptoirs) konnte der fast immer „wüthige“ Goethe sich das schöne lange Haupthaar lösen und mit bacchantischem Uebermuthe sich auf dem Boden wälzen, und als wenige Wochen nach Goethe’s Ankunft sich die beiden Grafen Stolberg, die Freunde des Frankfurter Dichters, auf ihrer Rückreise aus der Schweiz in Weimar einfanden, wo sie bis 3. Dezember verweilten, steigerte sich der Uebermuth bis zu genialer Tollheit. Auf Bertuch’s Stube hielt man das Gelag, warf die Trinkgläser zum Fenster hinaus, nahm Aschenkrüge, die in einem altdeutschen Grabhügel aufgefunden worden, zu Pokalen und trank daraus Thuiskons’s Gesundheit. An seine Schwester Auguste schrieb Graf Christian Stolberg von Weimar aus: „Hier wird’s uns recht wohl. Wir leben mit lauter guten Leuten, mit unserm Wolf (Goethe) und den hiesigen Fürstlichkeiten, die sehr gut sind, gehen auf die Jagd, reiten und fahren aus und gehen auf die Maskerade.“ Jagden und Ausflüge, Makenbälle, Schlittenpartieen, Schlittschuhlaufen auf dem Schwansee, Concerte, Bälle, Trinken und Spielen, durchgeistigt vom sprudelnden Witz und Humor und verbunden mit derben Neckereien des witzigen Hoffräuleins von Göchhausen, füllten die Monate November und December 1775 wie die ersten Monate des Jahres 1776 aus. „Ich treib’s hier toll genug; wir machen des Teufels Zeug,“ schrieb damals Goethe an Freund Merck nach Darmstadt und der ganze junge Hofkreis, welchen Karl August um sich versammelte, und vor allem der Herzog selbst mit, betheiligte sich in Herzenslust daran.

Es war die Zeit der genialen Schrankenlosigkeit; die jugendliche Gesellschaft der Schöngeister, fortgerissen von Goethe’s und Karl August’s ungestümen Drang, die Fessel althergebrachten widerwärtigen Zwanges zu brechen, gab sich der tobendsten Ausgelassenheit hin, und Niemand nahm freudiger daran Theil, als der Herzog selbst und sein Bruder Constantin. Die schönen Geister Weimars liebten es aber auch, in launisch-satirischen Gedichten, „Matinées“ genannt, einander ihre Eigenschaften, Gewohnheiten, Arten und Unarten in oft derbem Scherze vorzurücken, und gerade in einer solchen Matinée von Einsiedel hat ein glücklicher Zufall uns das frischeste Bild des damaligen genialen Kreises und seiner einzelnen Mitglieder erhalten.

Friedrich Hildebrandt von Einsiedel, geboren 1750, der Spielgenosse und Jugendfreund Karl August’s, durch poetische und musikalische Begabung ausgezeichnet und wegen seiner harmlosen, muthwilligen Scherze, seiner gemüthlichen, gutmüthigen Heiterkeit nur l’ami genannt, hat im Januar 1776 unter dem Titel „Schreiben eines Politikers an die Gesellschaft am 6. Januar 1776“, mit der Unterschrift „Mephistopheles“, jene Matinée geschrieben, welche die Hauptpersönlichkeiten des weimarischen Kreises in scherzhaften Knittelversen anschaulich und lebhaft schildert. Das Original kam in Goethes’s Hand, welcher die Namen der einzelnen darin behandelten Personen mit Bleistift darunter verzeichnete. Nur der ihn selbst behandelnde Theil des Gedichts ist durch Aufnahme in Riemer’s „Mittheilungen über Goethe“ bisher davon bekannt geworden. Die äußerst charakteristische Stelle lautet:

Dem Ausbund aller, dort von Weiten,
Möcht’ ich auch ein Süpplein zubereiten,
Fürcht’ nur sein ungeschliff’nes Reiten;
Denn sein verfluchter Galgenwitz
Fährt aus ihm wie Geschoß und Blitz.
’s ist ein Genie, von Geist und Kraft:
(Wie eb’n unser Herrgott Kurzweil schafft)
Meynt, er könn’ uns all’ übersehn,
Thäten für ihn ’rum auf Vieren gehn,
Wenn der Fratz so mit Einem spricht,
Schaut er Einem stier in’s Angesicht,
Glaubt, er könnt’s fein riechen an,
Was wäre hinter Jedermann.
Mit seinen Schriften unsinnsvoll
Macht er die halbe Welt itzt toll,
Schreib ’n Buch von ein’m albern Tropf,
Der heiler Haut sich schießt vor’n Kopf:
Meynt Wunder was er ausgedacht,
Wenn ihr einem Mädel Herzweh macht.
Paradirt sich drauf als Doctor Faust,
Daß ’m Teufel selber vor ihm graußt.
Mir könnt’ er all gut seyn im Ganzen,
(Thät mich hinter meinen Damm verschanzen)
Aber wär’ ich der Herr im Land’,
Würd er und all sein Zeugs verbannt.

Mehr war von jenem merkwürdigen Gedichte bis jetzt nicht bekannt.

In den Mittheilungen über Weimar, Goethe und Corona Schröter, aus den Tagen der Genieperiode, welche ich soeben unter dem Titel „Vor hundert Jahren, Festgabe zur Säcularfeier von Goethe’s Eintritt in Weimar“ erscheinen lasse, wird aber jenes Knittelversgedicht zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. In demselben Tone wie Goethen behandelt darin Mephistopheles auf das Ergötzlichste auch die Genossen von Wedel, den Autor von Einsiedel selbst, von Knebel, Wieland, Hofrath Albrecht und endlich auch den Herzog Karl August, Letzteren mit den Worten:

Nun denk’ man sich ’en Fürstensohn,
Der so vergißt Geburt und Thron,
Und lebt mit solchen lockern Gesellen,
Die dem lieben Gott die Zeit abprellen;
Die thun als wärn sie seines Gleichen,
Ihm nicht einmal den Fuchsschwanz streichen,
Die des Bruders Respect so ganz verkennen.
Tout court ihn Bruder Herz thun nennen,
Glaub’n es wohne da Menschenverstand
Wo man all Etiquette verbannt.

Neben diesem charakteristischen Scherzgedichte, welches uns den genial-lustigen Kreis wie im Spiegel zeigt, sind uns aber noch zwei andere Documente erhalten, die in ihrer Zusammengehörigkeit ein treues Bild des Herzogs, Goethe’s und des ganzen damaligen Lebens und Treibens bieten.

Unweit der weimarischen Stadt Bürgel liegt romantisch in Felsen, Fichten- und Buchenwaldung das Dörfchen Waldeck. Eine Försterei, einen geräumigen Hof einschließend, mit Hirschgeweihen über der Thür und Wetterfahnen auf dem Dache steht noch unverändert dort, wie einst vor hundert Jahren. Damals bewohnte sie der wackere Förster Slevoigt mit seinen zwei hübschen, anmuthigen Töchtern. Bertuch, der talentvolle junge Weimaraner, welcher, bereits durch seine Dichtungen bekannt, im Jahre 1773 nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt war, hatte das Herz der ältern Tochter gewonnen, und der gute Melchior Kraus, der Frankfurter Maler, welcher ebenfalls dem Weimarischen Kreise angehörte, warb um die Gunst der jüngern Schwester. Mehr seinen Töchtern als sich selbst zu Liebe, hatte der Förster rauhgestaltete Felspartieen, Gebüsch und Waldstrecken durch Brücken, Geländer und sanfte Pfade gesellig wandelbar gemacht. Bertuch hatte mit seinem Mägdelein Rasen- und Moosbänke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 756. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_756.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)