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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

vermochten. Während das junge Wirbelthier nach kurzem Aufenthalte am Ufer immer von Neuem dem Wasser zueilte, hatten sich die Vettern der Urkrebse kaum überzeugt, daß sie mit ihrem harten Panzerkleide den austrocknenden Einflüssen der Luft prächtig widerstehen könnten, und daß die Landpflanzen einen reineren Geschmack hätten, als die Meeresalgen, als sie für immer dem mütterlichen Elemente Lebewohl sagten und zwei Paar Ruder in Schwingen umwandelten, um als vorläufige Alleinherrscher der Luft, vor verfolgenden Vögeln noch lange sicher, die Landschaft zu beleben. Diese Erstlinge waren Insecten, die zwischen Termiten und Heimchen ungefähr in der Mitte standen, sogenannte Urflügler, deren Kindeskinder ihr Ringelwurmdasein noch heute im Wasser beginnen, um mit später wachsenden Flügeln die Lüfte zu besuchen.

Die Wiesen und Felder jener Tage, deren Ernte ihnen Niemand streitig machte, das Jugendkleid der Erde, dessen Ueberreste wir Steinkohle nennen, zeigte ein einfacheres Aussehen, als das Prachtgewand, welches sich jetzt, in den Tropen mit einem farbenschimmernden Gürtel eingefaßt, um ihre Glieder legt. Es war noch nicht, wie heute, mit Blumen gestickt; Moose und moosartige Bärlapppflanzen bildeten den einförmig grünen Teppich der Wiesen, und riesenhaften Moosen glichen auch die höchsten Bäume der Steinkohlenwälder. Unter diese sogenannten Siegel- und Schuppenbäume mischten sich jene Pflanzen, welche heute unsere unfruchtbarsten Felder kennzeichnen, Farnkräuter und Schafthalme, zum großen Theile ebenfalls von baumartigem Wuchse. Wenn es erlaubt ist, jenen Riesenschafthalmen des jungen Insellandes ebenso rauhe Zweige zuzuschreiben, wie sie ihre Abkömmlinge besitzen und welche deshalb von den Hausfrauen in den guten alten Zeiten des Zinngeschirres zum Putzen desselben benutzt wurden, so glichen sie ohne Zweifel, wie wenige Pflanzen, jenem singenden Baume der Scheherazade, und der Steinkohlenwald muß im Winde eine wunderbare Musik entwickelt haben.

Und gar früh haben die Bewohner des Ton-Elementes dieses melodische Säuseln der Schafthalmbäume mit eigener ähnlich erzeugter Instrumentalmusik zu begleiten gewußt. Das hornartig harte Familiengewand dieser Thiere verführte, wenn es irgend rauhe Stellen darbot, zum Musiciren, wie ein Seidenkleid seine Trägerin zum durch die Säle Rauschen verführt. Und nirgends konnte ein Ruf oder Lockton erwünschter sein, als unter diesen im Naturbilde verschwindenden Wesen, die, in der Vorwelt nicht größer als heute, im Laube versteckt bleiben, so daß die Geschlechter einander kaum finden können, und nächtlich schwärmende Arten , z. B. die Johanniskäfer, sogar die Vorsicht gebrauchen müssen, wie Hero ein Licht anzuzünden, um ihrem Leander den Weg zu zeigen. Man kann sich daher mit Dariwn leicht vorstellen, wie sich die Anfänge eines musikalischen Apparates bei den Insecten durch natürliche Zuchtwahl bald vervollkommnen mußten, da nur die besseren Musikanten Aussicht hatten, eine Familie zu gründen.

Was nun die Entstehung der ältesten Musik anbetrifft, so wolle sich der geneigte Leser zunächst erinnern, daß an sich schwache Geräusche leicht zu einem hellen Tone anschwellen, wenn sie einander mit großer Schnelligkeit folgen. Wenn wir mit der Spitze einer Gänsefeder langsam über eine Feile oder über sehr fein chagrinirtes Papier hinwegfahren, so hören wir das Rasseln der einzelnen Töne, welches bei beschleunigter Bewegung erst in einen zirpenden, dann in einen schrillenden und endlich, wenn die Feile recht fein ist, in einen unerträglich gellenden Ton übergeht. Von ähnlicher Einfachheit war das Instrument der ältesten Musikanten. Betrachten wir eine der auf unseren Feldern und Wiesen während des Sommers in ungeheurer Masse musicirenden grauen oder grünen Feldheuschrecken, so bemerken wir mit der Loupe an der Innenseite der aufgestützten Hinterschenkel, da wo sie den Flügeldecken anliegen, eine Reihe sehr dichtstehender, zahnförmiger Erhöhungen, welche die sogenannte „Schrillader“ bilden, die, gegen eine erhabene Leiste der Flügeldecken gerieben, beim lebenden und todten Insecte den bekannten schnarrenden Ton hervorbringt. Es ist also ein echtes Geigenspiel auf zwei Instrumenten, mit dem sie das Weibchen locken. Die bald abwechselnd, bald gleichzeitig über die einzelne Saite geführten Schenkel entsprechen dem mit Colophonium rauh gemachten Bogen. Die näheren Verwandten der Feldheuschrecken, die Feldgryllen und die Heimchen unserer Wohnungen, besitzen ganz ähnlich gebaute Schrilladern auf der Unterseite der Flügeldecken, während die erhabene Leiste auf der Oberseite derselben liegt. Ihre beim Zirpen etwas emporgehobenen Flügeldecken dienen hierbei zugleich als Resonanzboden, indem sie wie die in der Luft geschwungene Guitarre den Ton verstärken. Bei den lautere Töne hervorbringenden Laubheuschrecken, zu denen der bekannte Liebling der Jugend, das große Heupferd gehört, kommt ein besonderer schallverstärkender Apparat hinzu, zur Geige gesellt sich das Tambourin. Die rechte Flügeldecke, welche bei ihnen stets unter der linken liegt, zeigt nämlich dicht an der Flügelwurzel ein zartes leicht schwingendes Häutchen, den sogenannten Spiegel, welcher von einem fünfeckigen Rahmen eingefaßt wird. Auf den Leisten dieses Rahmens geigt nun die Schrillader der darüber liegenden linken Flügeldecke und bringt so den durch das Tambourin verstärkten Ton hervor.

Schon jenes in den devonischen Schichten Neubraunschweigs von Scudder entdeckte Urinsect besaß diesen verbesserten Tonapparat, und wenn wir also im Frühlinge die Gryllen und Heimchen zum ersten Male vernehmen, so klingt in unserem Ohre das älteste Concertstück der Erde, eine vorweltliche Symphonie, wieder. Mit derselben noch etwas eintönigen Streichmusik wurden die jungen Fluren eingeweiht; bei ihrem Klange wuchsen später die Steinkohlenwälder, lange bevor das Lied der Singvögel die Fluren belebte. Es war kein seelenvoller aus froher Kehle erschallender Gesang, aber doch immerhin eine Aeußerung der Sehnsucht nach gleichgestimmten Seelen, das erste Ständchen der Natur. Die Weibchen dieser Thiere haben entweder gar keine, oder doch nur eine wenig ausgebildete Schrillader, die sie nie gebrauchen: so weit läßt sich die von den Singvögeln wie vom Menschen beobachtete Sitte zurückverfolgen, daß nur das starke Geschlecht Ständchen bringen geht, während das zartere den Tönen der Sehnsucht lauscht, um den guten Musikanten endlich zu erhören. Und dieser Ton, der in seiner unermüdlichen Andauer unserem Ohre zuletzt unerträglich wird, übt eine bestrickende Gewalt über die Weibchen, noch mit dem todten und künstlich zum Tönen gebrachten Männchen kann man sie locken, und Scudder betrog das Weibchen des an seinem Herde eingemietheten Heimchens sogar durch ein rohes, mit einer Feder auf einer Feile abgeraspeltes Liebesgezirp. Die Höhe des Schrilltones hängt von der Zahl der in einem bestimmten Zeitabschnitte an der Tonleiste vorbeigeführten Hervorragungen der Schrillader ab, also einerseits und hauptsächlich von der Dichtigkeit der letzteren, andererseits aber auch von der Geschwindigkeit des Anspielens. Da diese Spielgewandtheit bei den Urinsecten in gewissen Grenzen bleibt, obwohl die jüngeren und feurigeren Liebhaber sich in etwas höheren Tönen ausseufzen, so bleibt doch die Zahl der auf eine bestimmte Ausdehnung kommenden Rillen der Schrillleiste zunächst maßgebend, und aus ihr kann man deshalb, wenigstens annähernd, die Höhe des Liebesgezirps eines vorweltlichen Insects feststellen.

Bei Musikliebhabern setzt man selbstverständlich auch ein geschultes Ohr voraus, und neuere Naturforscher, wie Leydig, Siebold und Ranke haben daraufhin die Gehörorgane der ersten Musikanten untersucht. Wirklich konnten sie bereits in dem kleinen Kreise der Heuschrecken eine Fortbildung des Insectenohres nachweisen. Bei den Feldheuschrecken, welche nur schnarrende Töne mit ermüdender Ausdauer hervorbringen, fanden sie, ihrer Erwartung entsprechend, einen einfacheren, aus gleichlangen Schwingstäbchen gebildeten Apparat, der nur eine einfache Tonempfindung vermitteln kann, während die Laubheuschrecken, die mehrere und musikalischere Töne erzeugen, auch ein zusammengesetzteres Gehörsorgan mit ungleichlangen Schwingstäbchen aufweisen. Die Lage der Gehörsorgane ist übrigens eine ungewöhnliche und verschiedene, sofern sie bei den Feldheuschrecken über dem Ursprunge des letzten Fußpaares, bei Gryllen, Heimchen und Laubheuschrecken hingegen dicht unter dem Kniegelenke der Vorderbeine liegen.

Es ist übrigens wahrscheinlich, daß diese Erfinder der Streichmusik nicht nur jenes auch unter den Menschen beliebte Gesellschaftsspiel „Nach der Musik suchen“ üben, sondern auch durch ihr Geigenspiel einander vor drohender Gefahr warnen und andere Empfindungen mittheilen. Rösel von Rosenhof, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_788.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)