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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Wege stehen ließen, daß Jahrzehnte hindurch nicht eine einzige dieser akademischen Körperschaften das wissenschaftliche Anstandsgefühl, den Muth und die Selbstverleugnung zeigte, eine Berufung des Mannes zu verlangen. Bei Strauß schreibt sich wohl auch aus diesem Umstande der Ton verschärfter und rücksichtsloser Bitterkeit her gegen eine gewisse Art von zünftiger Wissenschaft, deren Bemühen darauf hinaus läuft, ihren Ueberzeugungen die Spitze abzubrechen, mit der Unwahrheit einen künstlichen Vertrag herzustellen, um sich Amt und Wirksamkeit nicht zu verscherzen. Hätte ihn der frühe schon reichliche Ertrag seines freien Leistens und die strenge Ordnungsmäßigkeit seines Wandels nicht hinlänglich vor materieller Sorge geschützt, so würde unsere Geschichte auch von diesem großen deutschen Schriftsteller zu erzählen haben, daß der Kampf mit der gemeinsten Noth sein Dasein verwüstet habe. Auch ein anderes Begehren seiner Natur, die Gründung eines traulichen Heim, die Sehnsucht nach häuslichem Glücke an der Seite eines geliebten Wesens sollte sich ihm nicht dauernd erfüllen. Die Wiener Sängerin Agnese Schebest hatte bei einem Gastspiele in Stuttgart durch den Zauber ihres Gesanges und die classische Vollendung ihrer Darstellung die hohe Bewunderung des Kunstkenners erregt, während die Anmuth ihres Wesens und ihrer Erscheinung unwiderstehlich sein Herz gewann. Die berühmte Primadonna ward die Gattin des stillen Gelehrten; die Neuvermählten wohnten zuerst in einem schön gelegenen Schlößchen bei Heilbronn, dann in Heilbronn selbst in freundschaftlichem Verkehr mit einer Anzahl hochgebildeter Familien; aber die Ehe war eine unglückliche, und die Gatten trennten sich nach fünf Jahren ohne gerichtliche Scheidung. Ihre beiden Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, blieben erst bei der Mutter; nach einigen Jahren nahm sie der Vater zu sich und gewann dadurch allerdings einen Quell der Beseligung und des reinsten, ungetrübtesten Glückes.

Der Schiffbruch seiner Häuslichkeit hatte Strauß in ein Wanderleben geworfen, aus dem er fortan nicht wieder herauskam. An den verschiedensten Orten schlug er sein Zelt auf und brach es nach einigen Monaten wieder ab. Von Heilbronn war er unter dem Verbrausen der Revolutionsstürme von 1848 nach München gegangen, dessen Kunstschätze ihn anzogen, dann verlebte er mit seinen Kindern eine Zeit in Weimar, die Erinnerungen an die goldene Zeit deutscher Poesie pflegend und namentlich den Spuren Goethe’s nachgehend, dessen wärmster Bewunderer er immer gewesen ist. Von Weimar zog er nach Köln, dem Wohnorte seines Bruders, von dort später nach Heidelberg, das ihn sechs Jahre fesselte, und das er dennoch mit Darmstadt vertauschte, wo er fünf Jahre wohnte. Dazwischen lagen kürzere oder längere Aufenthalte in Heilbronn, Berlin, Bonn, München, Bieberich, Baden-Baden etc. Der Wegzug wurde häufig durch den Tod oder Abgang von Freunden veranlaßt; für die Wahl entschied der geistig angeregte Verkehr des Ortes, die Darbietung von Kunstgenüssen, das Vorhandensein der literarischen Hülfsmittel, die Nähe angenehmer Waldspaziergänge, auch die Rücksicht auf das Gedeihen und die Ausbildung der Kinder. Im Ganzen jedoch hat Strauß unter der Ungemüthlichkeit dieses seinen innersten Neigungen widerstrebenden Wechsels schwer gelitten – er persönlich empfand diese Ungebundenheit als ein Uebel in seinem Dasein, aber der deutschen Nation und ihrer Literatur ist sie zu Gute gekommen, da wir unstreitig nur seiner unabhängigen Muße und der vollen Hingebung, welche sie ihm gestattete, jene reichen Schöpfungen zu danken haben, welche der freieren Thätigkeit dieses Schriftstellers entsprossen sind, in dessen Ausdruck und Styl Lessing und Goethe eine Wiedergeburt in Deutschland gefeiert haben.

Es ist hier nicht unsere Absicht, die ganze Reihe der weiteren Strauß’schen Werke vorzuzählen oder auch nur Einzelnes davon zu charakterisiren, aber Hauptsächliches muß doch genannt werden. Als Strauß nach und nach in kleinen wie umfassenden Schriften sein Werk hinreichend vertheidigt und in dieser Hinsicht mit wuchtiger Schärfe Alles erschöpft hatte, was er zunächst sagen konnte, als neben ihm auch Jünger und ebenbürtige Mitstreiter erstanden, die den begonnenen Kampf auf seinen Wegen fortsetzten, wandte er gegen das Ende der vierziger Jahre der Theologie den Rücken, um den anderweitigen in ihm arbeitenden Kräften und Antrieben seiner vielfältigen Bildung Genüge zu thun. Obwohl er aber, seiner Gewohnheit nach, unablässig las und studirte, fand er doch mehrere Jahre hindurch keinen Gegenstand, der ihn so stark zum Schreiben angeregt hätte, wie es bei ihm nöthig war. „Ich muß zornig sein, wenn ich schreiben soll,“ hatte er einmal einem Freunde gesagt. Der glückliche Instinct seiner großen Begabung aber ließ ihn bald schon die richtige Bahn finden. Unter den Gegenständen, die ihn unwiderstehlich anregten, stand oben an das Geheimniß des Menschenbildes, das innerste Wesen und Weben der menschlichen Persönlichkeit; ein tief in ihm lebender Drang führte ihn auf die oft so dunkeln und verworrenen Lebensgänge bedeutsamer und interessanter Männer, mißhandelter, verkannter oder nicht hinreichend gewürdigter Geisteskämpfer, in denen ihr Zeitalter sich gespiegelt oder die über dasselbe hinaus gewachsen waren. Hier eröffnete sich ihm ein weites und noch unbebautes Feld befriedigendster Thätigkeit, hier konnte der feine und scharfe Zergliederer, der humane Ergründer des Menschenherzens und seines Thuns und Leidens Genüge finden; hier konnte der Geschichtsforscher, der Literatur- und Kunstverständige seine Kraft erproben, hier auch konnte der Poet in ihm, der Drang nach künstlerischer Gestaltung zu vollstem Ausdrucke kommen. Fünfzehn Jahre im Leben unseres Schriftstellers sind von ihm fast ausschließlich dieser Thätigkeit gewidmet worden, aus der jene anziehenden und imposanten Lebensgemälde, classisch vollendete Meisterwerke, hervorgegangen sind, die zweifellos auch allen zukünftigen Geschlechtern als hohe und genußreiche Zierden unseres Schriftenthums erscheinen werden. Mit seinem scharfen und durchdringenden Geiste seiner säuberlichen und gesunden Schlichtheit, mit „dem großen, hellen und ruhigen Auge“, das Fr. Vischer an ihm rühmt, hat Strauß die Biographie zu einem lebendigen, lebensvoll ausgestalteten Kunstwerk erhoben und es bleibt ihm das als eines seiner glänzendsten Verdienste.

Sollen wir einzelne Erzeugnisse nennen, so leuchtet uns hier neben „Schubart’s Leben in seinen Briefen“, neben „Nikodemus Frischlin“, neben „Märklin“, dem Lebens- und Charakterbilde eines Jugendgenossen, in das der Autor gleichsam ein beträchtliches Stück seiner eigenen Entwickelungsgeschichte verwebt hat, vor Allem das große und sturmbewegte „Leben Ulrich’s von Hutten“ entgegen, sowie das brillante Buch „Voltaire“, das fast gleichzeitig mit dem plötzlichen Hereinbruche des letzten Franzosenkrieges erschien und trotz dieser Stürme einen so großen Eindruck machte, daß sofort eine zweite und 1872 schon eine dritte Auflage nöthig wurde. Alle diese Lebensschilderungen stehen aber nicht etwa als bloße Kunstwerke da zu ästhetischer Beschauung und müßigem Genuß, sondern zu den Helden, die er mit plastischer Kraft vor uns aufleben und an uns vorüberziehen läßt, hat es den Bildner hingezogen, weil er mit ihrem Bilde seiner Zeit etwas Nothwendiges sagen konnte, weil er in ihnen bereits die warme Blutwelle der Lebensströmung wahrgenommen, die unsere Gegenwart bewegt, weil ihr Kampf und ihr Geschick ernste Lehren und Mahnungen enthält für das Streben und Ringen unseres Jahrhunderts. In Bezug auf seinen „Hutten“ hat Strauß über diesem Punkt sich deutlich ausgesprochen. „In Zeiten der Drangsale wie der Wohlfahrt,“ so schrieb er 1870 in der Vorrede zur zweiten Auflage, „rufen die Völker gern die Geister ihrer großen Todten herauf; es sind dies meistens Kämpfer, die für das Licht gegen die Finsterniß, für die Freiheit gegen Despotendruck gestritten haben. Eine Wolke von Zeugen dieser Art um sich zu wissen, darin besteht der Adel einer Nation, und wenn eine eines solchen Adels sich rühmen kann, so ist es die deutsche. Eine Gestalt aus dieser Wolke habe ich ehedem hervorgerufen in einer bösen Zeit. Es waren die Jahre, da Germania nach einer erschöpfenden Fehlgeburt in tiefer Schwäche lag, da die großen und kleinen Dränger ihrer von Neuem Meister geworden waren, da übermüthige Nachbarn sie verhöhnten, da selbst jene schwarzen Vögel, als wäre sie schon eine Leiche, herangeflogen kamen und sie krächzend umschwärmten. Es war die Zeit der Concordate, jener Knechtungsverträge mit Rom. Damals rief ich: Ist denn kein Hutten da? Und weil unter den Lebenden keiner war, unternahm ich es, das Bild des Verstorbenen zu erneuern und dem deutschem Volke vor Augen zu stellen.“

Es geht daraus hervor, daß Strauß selbst in der Zeit scheinbarer Abwendung der Sache der religiösen Befreiung seine volle Theilnahme bewahrt hatte. Nachdem er Jahre hindurch,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_802.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)