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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

beförderte, mehr oder weniger entschuldbare Selbsttäuschung.

In der That haben die inzwischen angestellten wissenschaftlichen Untersuchungen belgischer Aerzte das kaum erwartete Resultat ergeben, daß diese regelmäßigen Freitagsblutungen an wohlabgegrenzten Körperstellen ohne alle mechanische Nachhülfe eintreten, daß es also eine wirkliche mystische Krankheit giebt, wie vorurtheilsfreie Köpfe, z. B. Montaigne, seit Jahrhunderten vermuthet haben. Wir werden sehen, daß eine solche Krankheit nur als das höchst künstliche Erzeugniß einer tief irregeleiteten Menschennatur zu verstehen ist, daß sie ein außerordentliches Interesse darbietet, sofern sie zeigt, wie weit die Macht der Einbildungskraft über den Körper reicht, und daß in dieser unbefangenen Betrachtungsweise die Wunden wunderbarer als Wunder erscheinen, daß vielmehr der Betrug unter Umständen ein so feiner sein kann, daß weder die Anstifter noch die Opfer dieser schrecklichen Verirrung jedesmal bewußte Betrüger zu sein brauchen. Es eröffnet sich, wenn wir an der Hand sorgfältiger ärztlicher Beobachtungen ein Verständniß dieser Krankheitsvorgänge suchen, unseren Blicken ein Abgrund, von welchem wir uns schaudernd abwenden, ein Abgrund, in welchem es dennoch nicht an lockenden Gewalten fehlt, um den einmal daran Stehenden unwiderstehlich hinabzuziehen. Nur die Aufklärung über das innere Wesen solcher Nervenkrankheiten vermag ihre Verschleppung und die oft beobachtete ansteckende Macht derselben zu hindern, und während die neuere Medicin die Teufelskrankheiten der Alten, die Epilepsie und Hysterie, nur ihres dämonischen Ansehens zu entkleiden im Stande war, wird sie die Kreuzigungskrankheit ganz aus der Welt schaffen können, denn diese steht und fällt mit dem Vertrauen auf ihren übernatürlichen Ursprung.

Man möge nicht einwerfen, daß dieser Krankheit in unserer Zeit der Boden bereits entzogen sei. Im Gegentheile, kein früheres Jahrhundert ist so „begnadigt“ mit Kranken dieser Art gewesen, wie das neunzehnte, und die Aufregung unserer Zeit läßt noch manches Opfer befürchten, wenn nicht eben jetzt, wo eine ausgezeichnete Gelegenheit sich dazu bietet, der Spuk völlig aufgeklärt wird. Noch am 7. November 1874 forderte diese entsetzliche Krankheit zu Termonde in Ostflandern das Leben eines zwanzigjährigen Mädchens zum Opfer. Isabella Hendrick hatte, was nicht überflüssig scheint zu bemerken, niemals irgend welchen Schau-Zwecken gedient; sorgfältig vor den Blicken neugieriger Fremden gehütet, erlag die schwärmerische Kranke dem Blutverluste aus ihren erst seit sieben Wochen geöffneten Wunden. Auf eine ganz kürzlich und diesmal glücklicher Weise zur rechten Zeit in verständige ärztliche Behandlung gerathene Stigmatisationscandidatin zu Altbreisach werden wir später zurückzukommen haben. Sollte die unnatürliche Krankheit in der seltenen Entwickelung, wie sie Louise Lateau darbietet, noch ferner in sorgfältiger Weise studirt werden, so ist kein Zweifel, daß man dem „Kleinen Franzosen“ oder der Kunst, in sechs Stunden fertig französisch zu sprechen, bald eine unfehlbare Anleitung, in sechs Wochen ein vollkommener Heiliger zu werden, wird gesellen können, und so eine den Klöstern gegenüber „als Manuscript gedruckte Anleitung“ würde sehr viel Nutzen stiften können.

Das schätzenswerthe Material zu einer solchen Anleitung ist bereits ziemlich ansehnlich. Auf meinem Schreibtische haben sich mehr als ein Dutzend Abhandlungen, Schriften und Bücher belgischer, französischer, englischer und deutscher Aerzte über den Fall Lateau angefunden, die alle zu dem Schlusse gekommen sind, die Lateau und wohl noch manche ihrer zahlreichen Leidensschwestern der Heiligenlegende seien weder als Betrügerinnen noch als Gottbegnadigte, sondern vielmehr als beklagenswerthe Kranke zu betrachten. Wir haben nun zunächst diejenigen Umstände in’s Auge zu fassen, welche zu der Annahme gedrängt haben, daß in diesem zu europäischem Rufe gelangten Falle nicht Alles auf Lug und Trug beruht. Im vergangene Jahre legte der Dr. Charbonnier-Debatty in Brüssel der belgischen Akademie der Wissenschaften eine umfangreiche Arbeit über die mystischen Krankheiten vor, welcher, obwohl sie selbst nur literarisch-kritisch verfährt, wenigstens das Verdienst nicht abgesprochen werden kann, allgemeine Gesichtspuncte aufgestellt, und vor Allem eine gelehrte Körperschaft halb widerwillig dazu gezwungen zu haben, aus ihrer Gleichgültigkeit und Gemüthsruhe einem allgemeinen Scandale gegenüber herauszurücken. Charbonnier geht von der auffallenden Uebereinstimmung aus, welche man in der Vorbereitung zur Heiligenlaufbahn, den Reinigungen, Kasteiungen und dem Fasten bei Altindern, classischen Völkern, Juden und Christen nachweisen kann. Und zwar glaubt er den eigentlichen Kunstgriff in der allmählichen Gewöhnung des Körpers an eine unzureichende Nahrung, in einer planmäßigen Störung der regelmäßigen Verdauungsthätigkeiten zu finden. Schon Swedenborg, der in seinen jüngeren Jahren ein gepriesener Naturforscher, ein angehender Humboldt des Nordens gewesen, hatte diesen Zusammenhang seiner schlechten Verdauung mit seinen Geistererscheinungen wohl erkannt, und da die letztere verkörperte Gedanken sind, ließ er sich mit Recht von einer derselben die Donnerworte zurufen: „Iß nicht so viel!“ Zahlreiche Aerzte haben den nahen Zusammenhang der Unterleibskrankheiten mit der Entfesselung des phantastischen Vermögens, welche auch die Grundlage der Kreuzigungskrankheit ist, auf das Klarste nachgewiesen.

Nachdem Charbonnier gezeigt hat, daß von dem ersten Stigmatisirten, dem hl. Franciscus von Assisi, an sämmtliche Nachfolger ihren Weg mit Fasten und Kasteien begonnen haben, führt er den bis auf Louise Lateau ausgedehnten Nachweis, daß sie sämmtlich Schwerkranke waren, und tritt damit insbesondere dem in dieser Angelegenheit vielgenannten ultramontanen Professor Lefèbvre von Löwen entgegen, welcher die Stirn gehabt hat, zu behaupten, die Lateau sei kerngesund und werde alle Tage gesünder. Er meint, daß das Blut, welches bei gesunden Menschen den Verdauungsorganen zuströme, bei diesen Kranken vielmehr nach außen gedrängt werde, woselbst es sehr bald dazu gelange, die zarten Schleimhäute, welche die inneren Körperhöhlungen, Mund, Augenhöhlen und Nase auskleiden, zu durchbrechen. In der That bringt er die Belege bei, daß nicht nur der hl. Franz, sondern alle Stigmatisirten, deren Krankheitsgeschichte genau bekannt ist, wie Veronika Giuliani, Colette von Gand, Maria von Moërl, Louise Lateau u. s. w., bevor die härtere Oberhaut bei ihnen durchbrochen wurde, Blut aus Mund, Nase und Augen (sogenannte blutige Thränen) verloren haben, daß u. A. die heilige Therese, wie die oben angeführte Isabella Hendrick, an solchen inneren Blutverlusten erstickt ist.

An den bis hierher wohlbegründeten Nachweis einer durch Kasteiung beförderten Neigung zu allgemeinen Blutverlusten knüpfte Charbonnier die unbewiesene und schwerlich haltbare Vermuthung, daß der menschliche Körper, dessen Wärmeverlust in südlichen Gegenden, wenn er nicht arbeitet, gering ist, durch eine sehr allmähliche Entwöhnung zu einer fast vollkommenen Einstellung der Verdauungsthätigkeiten gelangen könne, daß die Lunge in solchen Fällen eine Stickstoff-Aufnahme aus der Luft vermitteln möchte, und daß also auch an der immer wiederkehrenden Behauptung, diese Mystiker äßen nicht, oder lebten, wie die indischen Fakire ausdrücklich behaupten, gleich den Pflanzen von Luft, etwas Wahres sein könnte. Obwohl zwei berühmte Chemiker, Regnault und Reiset, eine derartige unmittelbare Stickstoffaufnahme durch die Lunge bei einigen Thieren nachgewiesen haben und obwohl eine gegenseitige Vertretung von Körperorganen unter Umständen zweifellos eintritt, erscheint diese Annahme vor der Hand völlig aus der Luft gegriffen, wenn man auch nicht sagen kann, daß sie etwas Unmögliches behauptet.

Die Brüsseler Akademie beauftragte drei Naturforscher und Aerzte Fossion, Maskart und Warlomont, über die Charbonnier’sche Arbeit zu berichten. Der Doctor Warlomont glaubte aber vor Allem feststellen zu sollen, ob der Fall Lateau überhaupt zu einer ernsthaften Untersuchung geeignet wäre. Statt eine genaue Prüfung der Charbonnier’schen Arbeit anzustellen, begann er vielmehr die Kranke zu beobachten, und obwohl er somit seinen Auftrag mißverstanden und der Akademie Gelegenheit zu einem Tadel gegeben, hat er doch nicht nur den Beweis geführt, daß, wie Charbonnier behauptet hatte, die Stigmatisation eine Krankheit ist, sondern auch das erste vertrauenswürdige Material zum wissenschaftlichen Studium dieser Krankheit geliefert.

Er untersuchte zunächst die Wunden und stellte fest, daß das Blut aus angeschwollenen, aber unzerrissenen Aederchen hervortritt, er prüfte sodann das Blut mikroskopisch und fand,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 805. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_805.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)