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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

daß es ein krankes Blut sei, welches sich durch eine ungewöhnliche Armuth an rothen Blutkörperchen und ein großes Uebermaß von Blutwasser (Serum) auszeichnet. Dies genügt, die der Kirche so werthvolle Behauptung des Professor Lefèbvre, Louise sei kerngesund, zu widerlegen, was aber das Heraustreten der rothen und farblosen Blutzellen durch unverletzte Gefäßwandungen anbetrifft, worin der Ebengenannte den bindenden Beweis eines übernatürlichen Vorganges gefunden haben wollte, so hat der deutsche Physiologe Professor Cohnheim inzwischen bewiesen, daß die Blutkörperchen im Stande sind, durch die engsten Gewebeporen hindurchzuschlüpfen, indem sie sich, wie ein Thier, welches durch schmale Spalten kriecht, ganz schlank machen.

Nachdem Warlomont sich völlig überzeugt, eine Kranke vor sich zu haben, kam es ihm zunächst darauf an, festzustellen daß bei dem Aufbrechen der Wunden, welches regelmäßig in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag vor sich geht, keine äußere Nachhülfe stattfinde. Profesor Lefèbvre hatte sich begnügt, für diese Probe der Kranken Handschuhe anzuziehen, deren Armschluß durch Siegel verwahrt wurde, aber es ist klar, daß dieselben eine mechanische Reizung nicht hätten verhindern können. Dr. Warlomont schloß deshalb an einem Donnerstage im Beginne dieses Jahres die rechte Hand der Kranken in einem geräumigen Glaskolben so ein, daß sie sich in demselben frei bewegen konnte; der Hals des Kolbens wurde mittelst einer Art von enganschließendem Gummileinwand-Aermel mit Bändern, deren Enden versiegelt waren, mit Kautschukauflösung etc. so fest am Oberarme angeschlossen, daß nach Ansicht Warlomont’s und der Aerzte, die ihn bei der Anlegung und Abnahme des Verbandes unterstützten, jede mechanische Berührung des Handrückens – der Handteller blieb den Fingernägeln zugänglich – ausgeschlossen war. Eine gebogene Röhre erlaubte der Luft freien Eintritt in den Kolben, um aber eine Luftverdünnung durch Ansaugen mit dem Munde unmöglich zu machen, wurde die ganze Vorrichtung noch einmal in einen weiten luftdichten Beutel eingeschlossen, dessen Anschluß am Oberarm ebenfalls wohl verwahrt wurde. Mit einem Worte, die Aerzte hatten die Ueberzeugung, jeden äußeren Eingriff abgeschlossen zu haben, und gleichwohl fanden sie bei der Eröffnung des völlig unberührt gebliebenen Behälters Handteller und Rücken, wie gewöhnlich am Freitage, blutend und den unteren Theil des Behälters mit einer geringen Blutmenge angefüllt.

Soweit es eine Untersuchung ohne beständige Ueberwachung zuläßt, scheint damit festgestellt, daß für jetzt die Blutung freiwillig in den regelmäßigen Perioden eintritt, dagegen konnte Warlomont verschiedene andere Angaben der Herren Lefèbvre, Rohling, Majunke, Imbert Gourbeire, van Looy, und wie die zahlreichen Propheten des Wundermädchens sonst heißen, durchaus nicht bestätigen. Was zunächst die Angabe betrifft, daß die Wunden bereits am Sonnabend geheilt und mit einer glatten, schorflosen Haut bedeckt seien, fand er vielmehr, daß sie noch am Sonntage weit von einer vollständigen Heilung entfernt waren, auch scheint die Schorfbildung dauernd geworden zu sein. Besonders wichtig sind nun ferner die Warlomont’schen Beobachtungen hinsichtlich der Ernährungsfrage. Um festzustellen, ob in dem kranken Körper ein regelmäßiger, von Charbonnier in Frage gestellter Stoffwechsel stattfinde, und ob bei Louise, wie bei andern Menschen, nur durch Essen ersetzbare Körperstoffe im Blute zu Kohlensäure und Wasser verbrannt werden, ließ er sie nun zunächst mittelst eines Röhrchens anhaltend durch klares Kalkwasser athmen, während er selbst mit einer zweiten gleichen Vorrichtung zeigte, wie sie dies machen sollte. Und siehe da! Louisens Kalkwasser wurde ebenso schnell trübe wie das des Doctors, zum Beweise, daß sie, wie er, beständig Kohlensäure ausathmet, die sie doch vermuthlich aus nichts Anderem bereitet, wie er selbst, nämlich mittelbar aus Brod und anderer Speise. Zum Ueberflusse sammelte Warlomont eine größere Menge der von Louise ausgeathmeten Luft in einem besonderen Behälter, um dieselbe von Professor Depaire genau analysiren zu lassen. Es ergab sich dabei zwar ein etwas geringerer Gehalt an Kohlensäure und Wasserdunst, als ein gesunder Mensch ausscheidet, allein dies erklärt sich schon durch das etwas tiefere Einathmen bei dem Versuche, sofern dadurch der Procentgehalt der Ausscheidungen bedeutend herabgestimmt werden muß.

Der Untersuchende zog hieraus den Schluß, daß die Kranke esse, wenn auch vielleicht nicht eben reichlich, und wunderte sich deshalb auch nicht, einen in ihrem Wohn- und Schlafzimmer aufgestellten Schrank mit denjenigen Gottesgaben – Brod und Früchten – angefüllt zu finden, die sie angeblich vor vier Jahren zum letzten Male genossen haben soll. Er veranlaßte sie sodann, in seiner Gegenwart fünfzehn Gramm Brod und dreißig Gramm Kaffee zu genießen, um zu sehen, ob sie, wie die Parteigänger des Wunders einstimmig behaupten, wirklich diese geringe Nahrungsmenge alsbald wieder von sich geben würde. Er wartete fünf, zehn Minuten, ein halbe Stunde, und ging dann fort, ohne daß, trotz vielen Würgens, von diesen Dingen etwas wieder zum Vorscheine gekommen wäre. Natürlich versicherte ihm der gute Pfarrer Niels, daß dies alsbald nach seinem Fortgehen geschehen sei, allein auf’s Gewissen befragt, gestand er, daß er das nicht selber gesehen und daß Louise es nur gesagt hätte. Obwohl somit Warlomont einzig Beweise gegen die kostlose Lebensweise der Kranken erhalte hatte, wußten die ultramontanen belgischen Blätter alsbald triumphirend zu berichten, Herr Warlomont von der Akademie habe ebenso wie die Freiwilligkeit des Blutens auch das Hungerwunder lediglich bestätigen müssen. Er verwahrte sich nachdrücklich in den Zeitungen gegen derartige Verdrehungen der Wahrheit, allein trotzdessen wird er in der vor wenigen Monaten erschienenen Schrift des Abbé Cornet, „Louise Lateau und die deutsche Wissenschaft“, ruhig als Zeuge für die Enthaltsamkeit angeführt. Wir werden das entsetzliche Lügensystem, durch welches diese merkwürdige Krankheit zu einem Wunder aufgeblasen wurde, weiterhin noch an einem viel stärkern Beispiele kennen lernen, um daran zu sehen, wie die Wunder, nachdem sie im Rohen fertig sind, ihren letzten Schliff und die Politur erhalten. Erst dann werden wir die ganze Schwierigkeit einer derartigen Untersuchung, bei welcher die Trennung der unbewußten von der bewußten Lüge keineswegs leicht ist, übersehen können.

Unsere Kranke hat vor zwei Jahren zu den für spätere Bedürfnisse bereits angelegten Heiligen-Acten erklärt, daß sie (damals) seit drittehalb Jahren nichts weiter genossen habe, als die Hostie und sehr wenig Wasser, und hat diese Aussage durch einen Eid vor dem Crucifixe bekräftigen müssen. Da es allbekannt ist, daß Nervenübel derjenigen Art, von denen Louise heimgesucht wird, beinahe regelmäßig von einem unerklärlichen Hange zum Verbergen der Wahrheit begleitet sind, so ist die Abnahme eines derartigen Eides ein ebenso schweres Unrecht, als wenn man einen Berauschten vereidigen wollte. Warlomont macht auf die Möglichkeit aufmerksam, daß die Kranke vielleicht unbewußt esse. Er bringt den Umstand nämlich in Verbindung mit ihrer Angabe, daß sie seit ungefähr derselben Zeit nicht mehr geschlafen habe. Befragt, was sie denn die ganze Nacht treibe, hat sie verwirrt gestanden, daß sie, auf dem Stuhle sitzend, mitunter längeren Geistesabwesenheiten unterliege. Da sie nun während ihrer Ekstase einen ähnlichen Zustand darbietet, wie der Pariser Automatmensch (Gartenlaube Nr. 36 dieses Jahrgangs) oder ein sogenannter Nachtwandler, so wäre es möglich, umsomehr da ihre Schlafstube zugleich die Speisekammer der Schwestern ist, daß sie in diesem bewußtlosen Zustande den Speiseschrank öffnet und ißt. Warlomont, der, wie man sieht, kein Mittel unversucht lassen möchte, an die Aufrichtigkeit Louises noch ferner zu glauben, erzählt in seinem ausführlichen Berichte zwei Fälle von Kranken, die in ähnlichen Zuständen Speise nahmen. Der merkwürdigere derselben betrifft eine jetzt lebende Londoner Dame, welche die Speisen, die sie im wachen Zustande genießt, nicht im Magen behält, dagegen Alles wohl verdaut, wenn sie vorher durch ihren Arzt in den sogenannten magnetischen Schlaf versetzt wird. Seit drittehalb Jahren folgt sie ihrem Arzte, ohne den sie nicht leben kann, wie sein Schatten auf allen seinen Reisen. Sie würde, setzt Warlomont hinzu, wenn man ihr nicht das Gegentheil oft erzählt hätte, „vor dem Crucifixe, auf’s Evangelium oder bei dem Haupte ihrer Kinder schwören, daß sie während dieser ganzen Zeit weder etwas gegessen, noch etwas getrunken habe“. Wir werden sehen, daß der Zustand der mystischen Kranken in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_806.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)