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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Beim Pas-de-deux.
Aus dem Album „Der erste Ball“ von K. Koegler.


ihm selbst zu haben. Tweed aber blieb unsichtbar für Alle, die er nicht sehen wollte, und zu ihnen gehörten vor Allem die Reporter. Er wollte den langen Verhören Unberufener aus dem Wege gehen und hatte strenge Ordre gegeben, Niemanden vorzulassen. Aber selbst Tweed hatte die Rechnung ohne den Wirth gemacht. Obwohl ein Reporter nach dem andern den Versuch, zu ihm zu dringen, aufgab, Einer, ein junges Bürschchen, das sich seine Sporen verdienen wollte, hielt aus. Er eröffnete eine förmliche Belagerung. Sein Fuß wich nicht von der Schwelle. Man sagt, daß er selbst mit der Negerköchin eine Liebelei anbandelte, um wenigstens bis in die Küche zu gelangen. Jeden Tag, ja fast jede Stunde wanderte seine Karte hinein: „Der Reporter des ‚Sun‘ bittet um eine Unterredung“. Eine abschlägige Antwort entmuthigte ihn nicht; seine Ordre war, Tweed zu sprechen, und wie ein Soldat hatte er diese Aufgabe zu lösen. Endlich mochte seine Ausdauer Tweed rühren, und als der Reporter sich schließlich mit einer einzigen Frage zu begnügen versprach, öffnete sich ihm die so lange verschlossene Pforte; er stand dem Gewaltigen gegenüber. Aber er durfte nur eine Frage thun. Wie viel hätte der Mann mit den drei Wünschen von ihm lernen können! Auch nicht einen Augenblick war er in Verlegenheit, sondern fragte nach artiger Begrüßung im naivsten Tone:

„Sagen Sie, Herr Tweed, aber auf Ihre Ehre, sind Sie wirklich ein Dieb?“

Und Tweed warf ihn nicht zum Tempel hinaus, sondern lachte herzlich und gestattete ihm weitere Fragen.

Nicht minder heiter ist ein kleiner Vorfall in Chicago. Der Mayor der Stadt, ein von Natur freisinniger, aber schwacher und leicht bestimmbarer Mann, war den Temperenzlern in die Hände gefallen und bedrohte die Sonntagsfreiheit der Deutschen. Darüber entstand ungeheuere Aufregung. Joseph – wir wollen ihn bei seinem Vornamen nennen – wurde von Deputationen der Mucker und ihrer Gegner fast erdrückt. Jede, selbstverständlich am nächsten Morgen gedruckte Meinungsäußerung wurde ihm die Veranlassung zu neuem Aerger. So beschloß er denn, den Reportern gar Nichts mehr zu sagen, und war stumm, wie das Grab. Seine Conferenzen über diesen Gegenstand hielt er bei verschlossenen Thüren, vergaß aber die Schlüssellöcher zu verstopfen. Als er sich in ein Zimmer unter dem Dache flüchtete, wurde die Luftheizungsröhre dienstbar gemacht; sie trug den Schall der Worte weiter. Aus einzelnen Schlagwörtern reimte man sich den ganzen Inhalt des Gesprächs zusammen. Allerdings war Joseph etwas schwerhörig und bediente sich einer Ohrtrompete, sodaß mit ihm gewöhnlich ziemlich laut gesprochen werden mußte; er selbst hatte sich das laute Sprechen angewöhnt. Schließlich, als Tag für Tag ein Bericht über die geheimsten Sitzungen in den Zeitungen stand, entschloß er sich zu einer allergeheimsten Sitzung in dem aus starken, colossalen Mauern und eisernen Thüren bestehenden feuerfesten Gewölbe des Rathhauses. Lächelnd schritt er an den Reportern vorüber; schwer fiel die eiserne Thür hinter ihm in’s Schloß – am nächsten Morgen stand der Bericht in den Zeitungen. Joseph hatte seine Ohrtrompete nicht mit sich genommen, da drinnen durfte ja laut gesprochen werden, und da hatten die Reporter eine Anleihe bei ihm gemacht, hatten die Oeffnung der Ohrtrompete an das Schlüsselloch gelegt und so doch den Inhalt der Verhandlungen aufgefangen. Von dem Augenblicke an gab Joseph seine Heimlichkeiten auf. Er bekannte sich lachend als besiegt. Hatte doch der Reporter des Blattes, dessen Redacteur Joseph gleichzeitig war, den Reigen der Cameraden geführt.

Nicht immer aber steht der Reporter auf so sicherem Posten. Vor wenigen Monaten fand man am Gestade des Michigansees die gebleichten Gebeine des lange vermißten neunzehnjährigen Grimwood. Er war von seinem Localredacteur dazu bestimmt worden, eine Fahrt des Luftschiffers Donaldson zu beschreiben, also war er mit aufgestiegen. Eine halbe Stunde später brach ein orkanartiger Sturm los, der den Ballon zerfetzte. Die Gebeine der Verunglückten wurden nur durch die daneben liegenden Papiere recognoscirt. In Grimwood’s Notizbuch stand mit Bleifeder geschrieben: „Fünftausend Fuß über der Erde. Ich hoffte immer, ich sei zu Höherem geboren. Aber die Aufgeblasenheit regiert auch hier oben.“ In diesem Tone ging es eine Weile weiter. Die letzten Zeilen enthielten eine Andeutung über das Unwetter und eine Todesahnung. Er starb in seinem Berufe.

Wie die Rücksichtslosigkeit gegen Andere, so ist dem Reporter auch die gegen sich selbst in Fleisch und Blut übergegangen. Ich erinnere mich, daß am 14. Juli 1874, als die Stadt Chicago zum zweiten Male mit Vernichtung bedroht wurde, ein ganzer Schwarm von Reportern mit in die Häuser ging, welche wenige Minuten später in die Luft gesprengt werden sollten und in denen Alles zur Sprengung vorbereitet war, während ein wahrer Feuerregen sich schon auf sie ergoß. Mußten sie doch am nächsten Morgen genau beschreiben, wo die Lunte angelegt worden. Ja, als man vor einigen Tagen Schauerdinge über die Verwaltung eines Staatsirrenhauses von New York erzählte, ließ sich ein Reporter Namens Chambers in aller Form Rechtens und von Gerichtswegen für irrsinnig erklären und lieferte nach vier Wochen einen Bericht, der eine Abstellung der Mißstände zur Folge hatte.

Gleichviel welche Motive zu solch außerordentlichen Thaten veranlassen – oft ist es nur die Absicht, „Sensation“ zu machen; oft liegen andere Gründe vor – so viel steht fest, daß durch den Reporter schon sehr viel Gutes geschaffen wurde, neben manchem Bösen, das seine Rücksichtslosigkeit herbeiführte. Zwar deckt er fast immer nur die Schäden und Schwächen der Gegenpartei auf, aber es ist doch immerhin Jemand da, der den Beamten scharf auf die Finger sieht. Jede Ungehörigkeit rügt er. Allgemeine Mißstände werden hervorgehoben, beleuchtet und mit Scherz und Ernst bekämpft, bis sie gehoben sind. Trotz einer erklärlichen leichtfertigen Auffassung des Lebens ist er durchaus gutmüthig. Persönliche Gefahr kennt er nicht. Ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_808.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2022)