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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


der heutigen Zeitrichtung unausbleiblich, daß sich der größte Theil des noch treu gebliebenen Publicums über Hals und Kopf in den Strudel des Tingeltangelthums stürzt. Das Unwesen der Tingeltangelei macht sich auch in kleineren Städten schon gewaltig breit, und wie sehr dies der Kunst schadet, sieht man am deutlichsten an dem kümmerlichen Vegetiren dieser kleinen Stadttheater, die nur mit großen Opfern ihrer ehrlichen Directoren dem Bankerott entgehen, der ihnen fortwährend droht.

Die neue Theatergesetzgebung hat eine neue Classe von Directoren geschaffen, die Classe der „dramatischen Bierwirthe“. Das sind die Besitzer großer Restaurationslocalitäten, die sich in den Kopf gesetzt haben, auch Theaterdirectoren sein zu wollen. Diese dramaturgischen Anwandelungen verdanken sie dem Wunsche, möglichst viel Geld zu verdienen. Das thun sie auch. Der dramatische Bierwirth engagirt sich einen „technischen Leiter“ oder einen „Oberregisseur“, zahlt auch sehr häufig nicht unbedeutende Gagen und macht fast immer sein Geschäft. In Bezug auf das Institut der dramatischen Bierwirthe haben die Schauspieler den Witz gemacht: „Heute frische Blutwurst! Dazu: Die Braut von Messina!“ Wenn das nun auch übertrieben ist, so ist manches Andere noch schlimm genug. Ich kannte einen dramatischen Bierwirth ersten Ranges. Er war sogar Mitglied des deutschen Bühnenvereins und bot seinen Schauspielern etwa folgendes Wochenrepertoire für den Winter:

Sonntag: Vorstellung im Etablissement von sieben bis elf Uhr Abends bei mörderischem Tabakrauch. – Montag: Probe. Direct nach Tisch Abreise mit der Bahn nach einer vier Meilen entfernten Stadt. Nach Ankunft Probe. Abends Vorstellung. – Dienstag: Früh sechs Uhr Abreise. Nach Ankunft Probe. Abends Vorstellung im Etablissement wie oben. – Mittwoch: Zwei Proben. – Donnerstag: Probe. Abends Vorstellung im Etablissement. – Freitag: Früh sieben Uhr Abreise per Omnibus nach einer sechs Meilen entfernten Stadt. Nach Ankunft Probe. Abends Vorstellung. – Sonnabend: Früh sechs Uhr Abreise per Omnibus nach dem sechs Meilen entfernten sogenannten Domicil. Um ein Uhr Ankunft, um drei Uhr Probe und so weiter mit Grazie bis in’s Unendliche. Dabei war der liebeswürdige Mann so freundlich, seinen Mitgliedern geheizte Zimmer in den Gasthöfen zu verweigern, weil „nach ärztlicher Aussage das kalte Schlafen und kalte Waschen sehr gesund sei“. Wann die abgehetzten, katarrhalisch und rheumatisch afficirten Mitglieder ihre Rollen lernen sollten – danach zu fragen, trug er nie Verlangen. Zur Erholung durften sie in Maskenzügen mitwirken, wenn er öffentliche Maskenbälle veranstaltete. Und für das Alles hatte der dramatische Bierwirth in seinen Contracten einen Schein des Rechts und war äußerst empört, daß ihm die Schauspieler in hellen Haufen contractbrüchig wurden. –

Ein fernerer Blick in die Rangliste der deutschen Theater zeigt uns nunmehr die sogenannten „reisenden Gesellschaften“ und ihre Directoren. Ich meine hier zunächst die „reisenden Gesellschaften“ besserer Art. Sie sind mit Unrecht in schlechten Ruf gekommen. Geistreiche Feuilletonisten, die auf einer Sommerreise irgendwo einmal einer „Schmiere“ oder einem „Meerschweinchen“ begegneten, amüsirten sich köstlich und schrieben äußerst pikante, humoristische Artikel über das Leben und Treiben der „reisenden Gesellschaften“. Aus diesem Grunde betrachtet[1] das große Publicum diese Institution als eine höhere Vagabondenschule. Sehr mit Unrecht. Was bedeutet heutzutage überhaupt „reisende Gesellschaft“? Es wird beim deutschen Theater jetzt so viel gereist, dasselbe zahlt so viele Thaler jährlich für Hausirgewerbescheine, daß man den Begriff „reisende Gesellschaft“ kaum noch präcisiren kann. Die Directoren der guten „reisenden Gesellschaften“ sind fast immer Ehrenmänner von etwas veralteten Ansichten, die über den Schwindel der Neuzeit den Kopf schütteln und ihre Gagen prompt bezahlen. Die Leistungen ihrer Bühnen stehen sehr häufig ganz auf gleicher Höhe mit denen der Stadttheater zweiten Ranges. Freilich – die scenische Ausstattung, die Costüme lassen oft viel zu wünschen übrig. Tritt der Zuschauer in die glänzenden Auditorien großer Theater, so erfolgt zunächst ein „Ah“ der Bewunderung. Der Glanz und die Pracht nehmen ihn gefangen. Der Gedanke, daß auch an einem „großen“ Theater eine schlechte Komödie gespielt werden könne, kommt nur schwer auf. Dem gegenüber ist der Mime der „kleinen“ Theater ganz auf sein künstlerisches Können angewiesen. Nichts hebt, nichts deckt die etwaige Schwäche seiner Leistung. Darum aber auch bedeuten seine Erfolge oft mehr. Und war denn Burbage ein schlechter Schauspieler, weil sein Director Shakespeare nur über einen Bühnenapparat der bescheidensten Art verfügen konnte? Waren die Ludwig Devrient, die Karl Grunert oder hundert Andere nicht schon Genies und Talente ersten Ranges, als sie das Wanderleben der „reisenden Gesellschaften“ theilten? Begannen und beginnen nicht noch heute die Talente ihren Siegesflug als Mitglieder der kleinen Theater?

Wir kommen nun zu den Abarten der reisenden Gesellschaften, den „Schmieren“ und „Meerschweinchen“, wie die technischen Ausdrücke lauten. Der Schmierendirector zahlt Gage – wenn er sie einnimmt oder das Geld nicht anderweitig braucht. Die „Meerschweinchen“ dagegen sind sogenannte „Theilungsgesellschaften“, d. h. die Mitglieder theilen sich social-demokratisch in den Ertrag ihrer Arbeit. Der Director, auch „Häuptling“ genannt, fährt dabei nicht schlecht. Erstens bekommt er einen „Theil“ als Director, zweitens einen für das „Werk“ (Decorationen), drittens einen für die „Bibliothek“, viertes einen als Schauspieler, fünftens einen als Cassirer und – sehr häufig – sechstens einen sogenannten „Abnutzungstheil“. Die Stellung eines „Häuptlings“ ist also gewinnbringend. Das Geschäft kann sich sogar noch besser gestalten. Ist der „Häuptling“ verheirathet, wirkt seine Gattin mit und zählen etwa auch seine Kinder zu den ausübenden Künstlern, so erhält jede dieser Persönlichkeiten natürlich auch ihren „Theil“. Schließlich bezahlt der „Häuptling“ alle seine Bedürfnisse bei Bäcker, Schlächter und Bierwirth mit Billets – man sieht, die Stellung ist nicht ganz „ohne“. –

Zu den „Meerschweinchen“ gehören auch die sogenannten „Familiengesellschaften“. Ihre Entstehungsgeschichte ist gewöhnlich folgende: Ein Schauspieler Müller, Vater einer zahlreichen Familie, hat vor mehreren Jahren den nicht mehr ungewöhnlichen Einfall gehabt, Theaterdirector zu werden. Sein Kindersegen zwang ihn zu diesem heroische Entschlusse. Anfangs gab er mit seiner Gattin kleine Lustspiele, die nur zwei Personen beanspruchten, und sein Nachwuchs agirte in „Kinderkomödien“. Als die Kinder mehr und mehr gedeihlich heranblühten, begriff Müller, daß es Zeit sei, das Geschäft zu vergrößern. Er besitzt vier Sprößlinge, zwei Söhne und zwei Töchter. Er engagirt zwei junge Damen, und seine Söhne heirathen dieselben schleuigst. Nicht minder schnell wissen seine Töchter zwei junge Schauspieler in eheliche Fesseln zu schlagen. Der Zufall und ihr Unglück haben diese jungen Leute in das Fabrikdorf geführt, wo sich damals der Karren befand. Die Gesellschaft Müller ist nunmehr vollzählig, und das Publicum ist zufrieden. Höchstens beklagt sich einmal der Dorfschulze, daß der Name „Müller“ auf dem Theaterzettel so oft vorkommt. Dieser Theaterzettel ist manchmal gedruckt, häufiger geschrieben und wird stets „am folgende Tage wieder abgeholt“.

Sachsen, Böhmen und Bayern haben die zweifelhafte Ehre, für das Eldorado der „Schmieren“ und „Meerschweinchen“ zu gelten. Wie deutlich schwebst Du vor meinem inneren Blick, ehrlicher „keeniklich sächscher gonzessionirter Deaderderekt’r“! Du botest Deinem Publicum viel. Sogar „lebende Bilder“ auf der Drehscheibe. Eines schönen Abends stand auf der Drehscheibe eine herrliche Frauengruppe, darunter Deine „Braut“. Da schlich sich ein toller Bursche unter das Podium und half dem „Deadermeester“ die nicht leichte Last im Kreise wälzen. Aber der tolle Bursche drehte nicht im Gleichmaß, und die Frauengruppe – darunter Deine „Braut“ – purzelte über den Haufen. Ich sehe Dich noch vor mir stehen an dem engen Eingange, der unter das Podium führte. Du fuchteltest mit einem alten, verrosteten Hirschfänger in der Luft herum und führtest Wuth und Knotenstock im Blicke. Donnernd entströmten Deinen „keeniklich sächschen gonzessionirten“ Lippen die Worte:

„Nee, so änne Gemeenheet! Kumm’ Se nor ’raus – ich schlitze Sie den Bauch uff.“ –

Arno Hempel.



  1. Vorlage: „betrchtaet“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_811.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)