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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

aller Kraft, all den Gegensätzen, aller ungelösten Verwirrung empfangen zu haben. Seitdem er seinen Vater verloren, der Professor der Geschichte und Beredsamkeit an der Universität zu Königsberg war, blieb er bis zum zweiundzwanzigsten Jahre bei der Mutter, einer Nichte des Dichters Valentin Pietsch. Werner selbst nennt sie eine reine heilige Kunstseele und Märtyrerin. Hippel, der Dichter der ‚Lebensläufe in aufsteigender Linie‘, sagte von ihr, daß sie jeden Gegenstand mit Adlerblicken durchschaute, und auch Hoffmann, der Verfasser der ‚Serapionsbrüder‘, giebt ihr das Zeugniß, daß sie mit Geist und Phantasie hoch begabt gewesen sei.

In ihrem besten Alter verfiel sie aber in eine schwärmerische Gemüthskrankheit, von der sie nie genas und in der sich der Wahn in ihr ausbildete, sie sei die Jungfrau Maria und ihr Sohn der Heiland der Welt. Es ist unverkennbar, daß diese Geistesart der Mutter, in welcher Weise auch deren Zerrüttung sich ausgesprochen haben mag, nicht ohne tiefen Einfluß auf das empfängliche Gemüth des Sohnes geblieben ist, des philosophisch gebildeten protestantischen Dichters von ‚Dr. Martin Luther oder die Weihe der Kraft‘, des Dichters, in dem anfangs keine Spur von religiöser Schwärmerei sich findet, viel mehr gerade vom Gegentheile, des Dichters der endlich als eifernder, mystischer katholischer Bußprediger seine Schreibfeder testamentarisch vermacht hat der Schatzkammer der Mutter Gottes zu Mariazell als eines Hauptwerkzeuges seiner Verirrungen, seiner Sünden und seiner Reue.“

Justinus Kerner, der somnambule, hellsehende Dichter, berichtet in seinem „Bilderbuch aus der Knabenzeit“ über seine Mutter, eine geborene Stockmayer: „Sie war von kleiner Gestalt, zarter Natur und in ihrer Jugend von nicht gewöhnlicher Schönheit.“ Bei ihrer Ankunft als Braut in Ludwigsburg habe sie Schubart besungen:

     „Die Nachtigall sang froh dazu:
Wie schön bist Du! wie schön bist Du!“

Durch ihr ganzes Leben waren stille Demuth und Gehorsam gegen ihren Eheherrn, ja selbst Furcht vor ihm, Hauptzüge ihres Charakters. Sein Wille war ihr strenges Gebot, und ihr ganzes Dichten und Trachten ging nur dahin, ihn bei gutem Muthe zu erhalten und alles Unbequeme von ihm zu entfernen. Auf seinem Todtenbette, wo er die Hostie nicht mehr verschlingen konnte, nahm sie dieselbe von den kalten, ersterbenden Lippen und verschlang sie in seinem Namen unter Gebet und Thränen. Diese krankhafte Excentricität zeigt bei ihren Schwestern noch trübere Erscheinungen. Eine ältere Schwester, die sehr geistreich gewesen und poetische Anlage gehabt haben soll, verfiel später in Melancholie; ihr Sohn wurde wahnsinnig. Ihre Tochter, deren Sohn der Dichter Wilhelm Hauff war, wurde Nachtwandlerin, und auch die jüngste Schwester der Mutter ist wahnsinnig gewesen. „Das Gefühlsleben,“ berichtet Kerner selbst, „herrschte bei meiner Mutter durchaus vor, aber nie erlitt sie eine Störung des Geistes. Es erzeugte sich in ihr kein Wahnsinn, aber, wenn man mich so nennen will, doch in ihr ein Poete, und so war es auch bei Wilhelm Hauff’s Mutter. Ich führe diese physischen Zustände einzelner Glieder meiner Familie an, weil daraus hervorgeht, wie Wahnsinn, Somnambulismus und Dichtkunst mit einander verwandt sind, und oft eins aus dem andern hervorgeht.“ – Bei dem Dichter der „Seherin von Prevorst“, der „Erscheinungen aus dem Nachtgebiete der Natur“ hat sich dies in hohem Grade bewahrheitet.

Und wie bei den erwähnten deutschen Dichtermüttern zeigen sich dieselben seelischen Uebertragungen auch bei Dichtermüttern fremder Nationalitäten. Dämonischer noch als bei dem vorgenannten deutschen Dichter Zacharias Werner sind die düstern Schatten, welche das Bild der Mutter Byron’s auf ihren großen Sohn wirft.

Lord Byron! Er war geboren – so charakterisirt ihn sein geistreicher Landsmann Macaulay – mit Ansprüchen auf Alles, was Menschen begehren und bewundern. Aber einem jeden der unzähligen Vortheile, welche ihm vor Andern zu Theil geworden, war ein Zusatz von Unglück und Entwürdigung beigegeben. Aus einem alten, edlen Hause entsprossen, trat er eine Erbschaft an, verkümmert und befleckt durch Verbrechen und Thorheiten seiner nächsten Vorfahren. Sein unmittelbarer Vorgänger war arm gestorben und nur die Milde seiner Richter hatte ihn vor dem Tode durch Henkershand bewahrt. Der junge Lord hatte große Geistesgaben, aber auch ihnen war viel Ungesundes beigemischt. Von Natur gefühlvoll und hochherzig, machten Launen ihn reizbar und wunderlich. Bei apollinischer Schönheit der Gesichtszüge war er doch nur ein Krüppel, der über die Straße hinkte.

Aber wie launisch auch das Schicksal gegen ihn war, war doch die Mutter noch tausendmal launischer. Von leidenschaftlichen Ausbrüchen des Zornes ging sie zu ebenso leidenschaftlichen Ausbrüchen einer ausschweifenden Zärtlichkeit über. Es schien, als ob die eigene Mutter nicht weniger als die Natur und alle seine Umgebungen es darauf angelegt hätten, ein verzogenes Kind aus ihm zu machen. Kein Wunder, daß er es geworden.

Catharina Gordon, die einzige und reiche Erbin aus altadeliger schottischer Familie, war die zweite Gattin des Capitain Byron. Der eheliche Friede ward ebenso schnell vernichtet, wie die ganze Habe der Frau schon nach einem Jahre verthan war. Das einzige Kind, George Byron, ward erst nach der Trennung der Eltern 1788 geboren und verlebte seine Kinder- und Jugendjahre bei der Mutter.

Züge ihres Charakters zeigten sich schon im zartesten Alter auch bei dem Kinde. Als George eines Tages gescholten wurde, weil er ein neues Röckchen, das ihm eben angezogen worden, beschmutzt hatte, erwiderte er kein Wort. Aber er wurde bleich wie der Tod, und mit beiden Händchen das Kleid ergreifend, zerriß er es von oben bis unten und trotzte in stummer Wuth dem Aerger der Wärterin. Ja, es wurde noch lange eine Untertasse als Reliquie aufbewahrt, aus welcher das Kind einst in einem solchen Anfalle von innerer Empörung ein Stück förmlich herausgebissen hatte. Die Mutter war ihm das Vorbild zu solchen Scenen; nur einer unbedeutenden Veranlassung bedurfte sie, um in so große Wuth zu gerathen, daß sie Alles umherwarf und zerbrach, daß sie sich die Haube vom Kopfe riß und mit Füßen zusammentrat.

Zum größten Unglücke für den Knaben war seine Erziehung ganz dieser Mutter überlassen, bei der selbst der Umstand, welcher sonst die Zärtlichkeit noch erhöht, dazu dienen mußte, das gestörte Verhältniß noch mehr zu vergiften. Das körperliche Mißgeschick ihres Sohnes, diese „Hintansetzung der Natur“, welche der Dichter bis an sein Ende bitter empfand, gab der Wildheit der Mutter leider nicht selten Veranlassung zu Spott und Hohn. Und wenn dieser Knabe dennoch bei alledem ein großer Dichter wurde, ist es zu verwundern, wenn seine Werke in reichem Maße von einem wahrhaft dämonischen Elemente durchdrungen wurden?

Dieses dämonische Element äußerte sich auch bei der Nachricht von dem Tode seiner Mutter. „Meine arme Mutter,“ schreibt er dem Freunde, „ist gestern gestorben, und ich komme von London, um sie in die Familiengruft zu geleiten. Erst gestern erfuhr ich, daß sie krank sei, und heute schon erhielt ich die Todesbotschaft. Ich fühle jetzt, wie wahr der Dichter spricht, wenn er sagt, daß wir nur Eine Mutter haben können. Friede sei mit ihr!“ Und doch war er dem Leichenzuge nicht gefolgt, sondern sah ihm nur vom Thore der Abtei mit eisiger Kälte nach und trat alsbald an seine täglichen Morgenübungen im Faustkampfe mit mehr als gewöhnlicher Heftigkeit. Daß dies aus der Marotte der Absonderlichkeit geschehen, darauf leitet überzeugend eine Beobachtung der Dienerin. Diese kam zufällig in der Nacht nach der Ankunft des Lords an der Thür des Zimmers vorüber, in dem die Entschlafene lag. Sie glaubte drinnen schwere Seufzer zu vernehmen, und als sie eintrat, sah sie zu ihrem Erstaunen Byron allein am Bette der Leiche in einem Strome von Thränen, und vom Schmerzgefühle überwältigt, rief er der Eintretenden entgegen: „Ach, ich hatte nur diese eine Freundin in der Welt, und sie ist von mir gegangen.“

Und auch in dieser Schmerzensäußerung ist der Charakter der Mutter zu erkennen. Bei der kältesten Gleichgültigkeit, bei allen Anfällen von Wuth und Zorn war sie im tiefsten Herzensgrunde doch von Stolz und Zärtlichkeit für den Sohn erfüllt. Seiner literarischen Thätigkeit widmete sie die zärtlichste Theilnahme. Sie ahnte seine Größe im Voraus. Man fand in ihrem Nachlasse eine sehr sorgfältig geordnete Sammlung von Urtheilen und losen Blättern, die das Genie des Sohnes anerkannt und verkündet hatten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_837.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)