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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

„Warte doch noch ein Weilchen!“ sagte ich. „Komm’, laß’ uns anstoßen auf bessere Zeiten!“

„Ja, auf bessere Zeiten!“ murmelte Brömsel und stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. „Bei ihr! – Du bist lange unten geblieben,“ fügte er hinzu. „Doch keine allzu schlimmen Nachrichten von Haus?“

„Ich setzte dem Boten nur eine Depesche auf, die er auf’s Telegraphenamt bringen sollte,“ antwortete ich. „Trink’ noch einmal!“

„Ich mag nicht mehr trinken!“ rief Brömsel und zog sein Glas zurück.

„Thu’ mir’s zur Liebe!“ sagte ich. „Es soll kein perfider Sorgenbrecher sein. Du bedarfst der Stärkung an diesem Abend.“

Die Flamme im Kamine prasselte so lustig. Eine frische große Kohle hatte Feuer gefangen, und es knitterte und knatterte so fröhlich, daß es eine wahre Freude war, oder – hätte sein können.

„Wenn ich wüßte, daß es Dich nicht betrübte,“ fuhr ich fort, nachdem Brömsel getrunken, „so möchte ich wahrhaftig der erregten Phantasie die Zügel schießen lassen und –“

„Erwecke die Todten!“ schrie Brömsel auf.

„Das kann ich nicht,“ gab ich ruhig zurück. „Doch genau betrachtet, schafft meine Phantasie nicht einmal Wunder, wenn sie – Deine Henriette zum Vorwurf nehmen dürfte und Dir sagte: ‚es ist doch noch nicht alle Hoffnung verloren.‘“

„Ein exaltirter Mensch würde Dir den Vorwurf machen,“ sagte Brömsel, „Du versuchtest mit Phantasiegebilden mein Elend noch zu vergrößern. Dessen bist Du unfähig, lieber Freund. Also sprich Deinen Roman!“

„Zuvor noch ein Glas Wein! Ich bitte Dich darum.“

„Meine Nerven brauchen das nicht.“

„Dann erzähle ich auch nicht.“

„Nun, meinetwegen!“ rief Brömsel halb verdrießlich, schenkte sich das Glas halb voll und trank es aus. – „Jetzt ist’s aber genug.“

„Höre mich an!“ nahm ich das Wort wieder. „Die ‚Central-Amerika‘ ist untergegangen. Du hast den Namen Deiner Frau in der Liste der Vermißten gelesen. Wer sagt Dir denn aber, daß Henriette wirklich am Bord jenes Schiffes gewesen sei?“

„Mensch, mache mich nicht wahnsinnig!“, fuhr Brömsel auf und schnellte vom Sopha an meiner Seite in die Höhe.

„Ruhig, Freund!“ gebot ich ihm. „Du hast es gewollt, daß die Phantasie des Schriftstellers arbeite. Willst Du sie zu Ende hören? Oder willst Du es nicht?“

Brömsel ließ die Arme schlaff sinken, lehnte sich an das Sophakissen und sagte ruhig: „Weiter!“

„Es ist ein Hoffnungsschimmer des Poeten, den ich Dir geben zu können glaubte,“ fuhr ich fort. „Nenn’ es Phantasie, nenn’ es wie Du willst! Es berühren sich im Leben zu oft die Extreme, als daß wir an den Extremen vollständig verzweifeln dürften. Henriette konnte sich für die Reise mit der ,Ohio’ ein Billet gelöst haben. Eine Krankheit, ein Fieber konnte sie verhindert haben, mit diesem Schiffe nach Panama zu gehen. Es konnte also folgerichtig möglich sein, daß sie ihr Passagierbillet einer anderen Frau verkaufte. Es kommt ja in Amerika mehr auf das Geld an als auf die Identität der Personen, und solche Billetverkäufe passiren alle Tage. Ist das geschehen, so war Henriette nicht am Bord der ‚Central-Amerika‘, welche mit der ‚Ohio‘ correspondirte.

Eben so wohl aber konnte Deine Frau mit der ‚Ohio‘ einen Brief an Dich geschickt haben, der die Verspätung ihres Eintreffens meldete, und dieser Brief ist – ich wollte sagen: wäre allerdings mit der ‚Central-Amerika‘ im atlantischen Ocean zu Grunde gegangen, während Henriette in San Francisco krank darniederlag. Du siehst also, ohne erwünschte Abenteuer, ohne zum Verschlagenwerden an eine wüste Insel die Zuflucht zu nehmen, ohne sich an einen Stuhl anzuklammern, der uns einundzwanzig Stunden über Wasser hält, was, beiläufig gesagt, keine Frau aushalten würde, könnte die ‚Phantasie‘ des Schriftstellers eine Erklärung auch in Deinem Falle finden. Henriette blieb krank bis zur Abfahrt des zweitfolgenden Dampfers. Sie glaubte Dich inzwischen beruhigt, denn sie kannte das Schicksal der ‚Central-Amerika‘ noch nicht, konnte es nicht eher erfahren, als bis es zu spät war, Dich brieflich zu beruhigen. Sie konnte endlich von Aspinwall direct über Westindien nach Europa zurückkehren und, um schneller selbst bei Dir zu sein, den Umweg über New-York vermeiden, den sie anfangs beabsichtigte. Sonst würde sie Dir eine Kabeldepesche gesandt haben. Dies Alles konnte der – kann der Fall gewesen sein. Sieh, alter Junge, das waren die Gedanken, die mir so durch den Kopf flogen, als ich vorhin die Treppe heraufstieg.“

Brömsel war sehr bleich geworden.

„Mensch!“ rief er aus, „wenn Du ein Anderer wärst, ich sagte, Du wärst mit Deinen Sophismen ein Teufel. Du verlängerst meine gräßlichen Qualen durch eine künstliche Erregung des Glaubens an die Ungewißheit, und das wäre – infam. – Verzeihe mir!“ fuhr er fort, „ich sage nicht, daß es so ist; denn Du bist mein Freund.“

Er drückte mir die Hand.

„Und ich sage Dir jetzt, Brömsel,“ rief ich lebhaft, „Du hast dennoch kein Recht zu verzweifeln.“

„Schriftstellerphantasmen! Nicht einmal Schriftstellerphantasie mehr!“ gab mein Freund zurück. „Brechen wir das Gespräch ab!“

„So seid Ihr Laien!“ rief ich. „In Büchern laßt Ihr Euch Alles gefallen, das Tollste, das Unglaublichste. Wenn man Euch aber die Möglichkeiten des wirklichen Lebens schildert, dann zuckt Ihr die Achseln. Ich bedaure, daß ich – meiner Phantasie die Zügel schießen ließ.“

„Ich wollte Dich nicht kränken, Freund,“ sagte Brömsel.

„Wenn es nun so wäre,“ sprach ich weiter, „wenn ein Zusammentreffen von Umständen und Zufälligkeiten Dir Deine Frau am Leben erhalten hätte – meiner Treu! ich glaube, Du würdest den freudigen Schreck noch weniger ertragen können, als den traurigen. Nimm mir’s nicht übel, Du bist nicht Mann’s genug gewesen, um jedes Für und Wider von Möglichkeit zu erwägen. Du hast nicht den Muth der Hoffnung gehabt.“

„Quäle mich nicht mehr!“ rief Brömsel.

„Doch, mein Junge, ich halte es für meine Pflicht, Dich zu quälen,“ versetzte ich. „Du sollst und darfst nicht alle Hoffnung schwinden lassen. Du mußt hoffen und – ich nehme die poetische Licenz für mich in Anspruch – bist Du der Mann, der den Anblick der Auferstehung von den Todten ertragen könnte? Wenn er will, nicht in vier Wochen, in vierzehn Tagen, vielleicht –“

„Hahaha!“ lachte Brömsel bitter, „und wäre es in dieser Stunde, in dieser Minute. Ich glaube nicht an Gespenster. Meine Henriette!“ seine Stimme zitterte, „ich fürchte mich nicht vor der auferstandenen Todten.“

„Ich glaube doch,“ gab ich zurück.

„Nein, nein, nein!“

Dieses dreimalige Nein klang mir wie die Stimme der tiefsten Ueberzeugung.

Wäre es möglich? Wäre ein Zufall möglich, der das ,Wunder’ ersetzte?! O Gott! mein Glück wäre so groß, daß ich vor dem Glücke knieen würde, wie der Gläubige vor dem Altare.“

Seine Stimme war ruhiger geworden. Ich athmete tief auf.

„Die Kinder schlafen am Ende ein,“ sagte ich, nach der Uhr blickend. „Es ist schon acht Uhr, und es scheint, die Ungeduld der kleinen Herzen hat ausgetobt. Komm’, zünden wir die Lichter am Weihnachtsbaume an!“

Wir standen auf. Das Bescheerungszimmer lag neben dem Wohnzimmer. Wir öffneten die Thür. Die Kerzen am Tannenbaume brannten bereits und strahlten uns freudig entgegen. Der Tisch mit den Geschenken für die Kinder stand vor uns, an seinem Ende der leuchtende Christbaum. Ganz vorn auf dem Tische lag eine kostbare Pelzgarnitur, welche Brömsel für seine Henriette wenige Wochen zuvor gekauft hatte. Ein Zettel lag dabei, von Brömsel’s Hand geschrieben:

„Für meine Henriette!“

Das Zimmer war von dem Dufte der Tannenzweige erfüllt, der uns Allen, wir mögen noch so alt sein, die Erinnerung der Kinderzeit wieder in’s Gedächtniß zurückheimelt. Das Zimmer aber war leer. Wo waren die Kinder? Wer hatte die Lichter am Tannenbaume angezündet?

Thränen entstürzten Brömsel’s Augen, als er das für seine

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