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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

ihrer Kammerjungfer. „Ich will mich in mein Schlafzimmer zurückziehen und dort arbeiten – trage das Schreibzeug und diese Papiere hinüber!“ befahl sie. „Selbstverständlich bin ich für Niemand mehr zu sprechen.“

Der feurig rothe Streifen draußen erlosch; das weiße Licht des Salons aber schimmerte bis weit über Mitternacht in die dunkle, sturmgepeitschte Allee hinein. … Der Commerzienrath saß am Spieltische. Alle Anwesenden hatten bei seinem Eintreten einen liebenswürdigen Gruß, ein vertrauliches Händeschütteln für ihn gehabt, und das hatte sein beklommenes Herz durchwärmt und umschmeichelt wie Sonnenschein. Inmitten dieser Gesichter, mit der Vornehmheit des Adels oder dem Beamtenhochmuthe in den Zügen, fand er seine Handlungsweise so vollkommen gerechtfertigt, daß er die quälenden Scrupel der letzten Stunden fast nicht mehr begriff. Weshalb sich einem schiefen Urtheile aussetzen, wenn man sich bewußt ist, nicht einmal in Gedanken gesündigt zu haben? Und um welche Gemeinheit handelte es sich! All’ den allerliebsten Scandalgeschichtchen, die auch jetzt von Mund zu Mund schlüpften, hing man mit feinem, verständnißinnigem[WS 1] Lächeln „das seidene Mäntelchen“ um – es waren ja insgesammt noble Passionen und Verirrungen, die man geißelte, bei dem Verdachte eines gemeinen Attentates auf den Geldschrank des Schloßmüllers aber ließe sicher alle diese Leute den ohnehin in ihren Kreis Eingeschmuggelten gnadenlos fallen. … Allerdings durfte er sich jetzt nicht mehr damit trösten, daß sein Verschweigen Niemand schade; es drohte scheidend zwischen zwei Menschen zu treten, die bereits durch den Verlobungsring an einander gekettet waren – bah, Flora war ein excentrisches Wesen! Bei der nächsten Auszeichnung, die Bruck zu Theil wurde – und die konnte bei seinen Verdiensten, seinem Wissen nicht ausbleiben –, besann sie sich eines Bessern. … Er schlürfte ein Glas köstlicher Bowle, und das spülte die letzten Scrupel gründlich weg.




3.


Der Schloßmüller hatte in der That seine Enkelin, Katharina Mangold, testamentarisch zu seiner Universalerbin ernannt und den bereits von ihrem verstorbenen Vater für sie bestellten Vormund auch seinerseits bestätigt. – Dieser Vormund war der Commerzienrath Römer. Bei der Eröffnung des Testamentes war diesem doch sehr wunderlich zu Muthe gewesen, und er hatte den Kopf geschüttelt über die Widersprüche, die ungeahnt in der Menschenseele neben einander liegen. Der alte Mann, der ihn in dem jähen Wahne, er wolle ihn seines Goldes berauben, nahezu erwürgt, hatte ihn kaum eine Stunde zuvor bezüglich der Verwaltung des Vermögens mit beinahe unumschränkter Vollmacht betraut. Er hatte verfügt, daß, falls die beabsichtigte Operation seinen Tod nach sich ziehe, sofort sein gesammter Besitz an Liegenschaften,[WS 2] mit Ausnahme der Schloßmühle, verkauft werde. In Betreff dieser Ausnahme hatte er bemerkt, die Mühle habe ihn zum reichen Manne gemacht, und seine Enkelin, selbst wenn sie „so stolz und hochnäsig, wie ihre Stiefschwestern“ geworden sei, brauche sich nicht zu schämen, sie ihrem künftigen Ehemanne mitzubringen. Das Rittergut sollte zerschlagen, die Waldungen, Ländereien und die Wirthschaftsgebäude inmitten der weiten Gras- und Gemüsegärten je einzeln an den Meistbietenden veräußert werden; bezüglich der Villa und des dazu gehörigen Parkes solle jedoch der Commerzienrath Römer, sofern er darauf reflectire, die Vorhand haben, und sei ihm der Besitz mit fünftausend Thalern unter dem Taxwerth zuzuweisen. Diese fünftausend Thaler habe er nicht allein als Entschädigung für seine vormundschaftliche Mühewaltung, sondern auch als ein Zeichen der „Erkenntlichkeit“ des Testators anzusehen, da er sich niemals hochmüthig, wie „die Anderen in der Villa“, sondern weit eher wie ein anhänglicher naher Verwandter bezeigt habe. Ferner sollte auf Grund des Testamentes das Gesammtvermögen in Staatsobligationen und anderen soliden Papieren angelegt und die Wahl derselben dem Ermessen des Vormundes, als eines tüchtigen und umsichtigen Geschäftsmannes, überlassen sein.

Die junge Erbin lebte seit sechs Jahren entfernt von der Heimath. Ihr sterbender Vaters hatte sie der Gouvernante, einem Fräulein Lukas, übergeben, welche die Erziehung des Kindes seit dessen erstem Lebensjahre in den Händen gehabt und in der That Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Banquier Mangold hatte sehr wohl gewußt, daß er seinen Liebling, der sich stets scheu von den weit älteren Stiefschwestern ferngehalten, dieses Schutzes nicht berauben dürfe, und deshalb verfügt, daß Katharina mit nach Dresden gehen solle, wo die Erzieherin nach langjährigem Brautstand mit einem Arzte gerade um jene Zeit ihren eigenen Hausstand begründete. … Das junge Mädchen hatte in ihren Briefen an den Vormund nie den Wunsch ausgesprochen, die Heimath wiederzusehen; ebenso wenig war es ihrem Großvater, dem Schloßmüller, eingefallen, sie je zurückzufordern; er war damals vollkommen mit ihrer Uebersiedlung nach Dresden einverstanden gewesen, weil ihr Anblick den Gram um das einzige Wesen, das er geliebt, um seine Tochter, stets erneute. Nun, nach seinem Tode, hatte der Vormund ihre Rückkehr auf einige Zeit gefordert; er hatte ihr zugleich mitgetheilt, daß er sie selbst mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit, Ende April, abholen wolle, weil – was er selbstverständlich verschwieg – die Präsidentin Urach sich entschieden gegen eine etwaige Begleitung der ehemaligen Gouvernante verwahrte. Die Mündel war mit allem einverstanden gewesen, und hatte ihn nur auf seine Frage, ob sie bei Ausführung der testamentarischen Bestimmungen irgend einen persönlichen Wunsch habe, dringend gebeten, bei Verpachten der Schloßmühle die große Eckstube nebst Alkoven zu reserviren und beide Räume genau zu belassen, wie sie zu des Großvaters Lebzeiten eingerichtet gewesen seien. Das war geschehen. – –

Es war im Monat März, da kam eine junge Dame von der Stadt her. Sie ging auf der Chaussee, die mit den letzten vereinzelten Ausläufern der Straße, hübschen, kleinen Landhäusern, zu beiden Seiten besetzt war, und bog in den breiten Fahrweg ein, der nach der Schloßmühle führte. Noch war das Schmelzwasser des letzten Schneefalles nicht ganz versickert; es stand in den breiten Furchen, welche die Räder der Mühlenwagen gewühlt hatten, und in den tiefeingedrückten Spuren der vielen Sohlen, die hier verkehrten; aber die schlanken Füße des junge Mädchens steckten in festen Lederstiefelchen, und das schwarze Seidenkleid war so hoch aufgeschürzt, daß der elegant bordirte Saum mit dem triefenden Geröll nicht in Berührung kam. Es war durchaus keine Elfe oder Sylphide, das Menschenkind, das so kräftig und sicher dahergeschritten kam, weit eher eine Gestalt, wie man sich ein schönes Schweizermädchen denkt, dem die kräuterwürzige Alpenmilch und der reine Athem der Bergluft das Blut mischen und Adern und Sehnen vor Gesundheit strotzen machen. Eine anliegende, mit Pelz besetzte schwarze Sammetjacke bezeichnete die kräftigen, aber schön geschwungenen Linien der Taille und des Busens, und auf dem lichtbraunen Haare saß, ein wenig schief gerückt, eine Mütze von Marderfell. Das Gesicht war weit entfernt, proportionirt oder gar classisch regelmäßig zu sein – das gebogene Näschen war zu kurz im Verhältniß zur Wölbung und Breite der Stirn, der Mund zu groß, das runde Kinn mit dem Grübchen ein wenig zu kräftig vorgeschoben, der Bogen der Brauen nicht bestimmt genug, aber diese Mängel wurden aufgewogen durch die reine, von den breiten Schläfen ausgehende Ovallinie und die unvergleichliche Jugendfrische und Blüthe der Gesichtsfarbe.


(Fortsetzung folgt.)




Waisenkinder auf der Haide.

Kein Obdach! Birg in meinem Schooße
Das liebe Lockenköpfchen dein
Und schließ’ das Aug’, das dunkle, große,
Zu gold’nem Traum, mein Brüderlein!

Die Nacht bricht an – die Vögel schweifen
Zu Nest, zu Nest mit letzter Kraft;
Der Nebel wallt in langen Streifen
So grau daher – und märchenhaft
     Ziehn Glockenklänge auf der Haide.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verständißinnigem
  2. Vorlage: Liegeschaften
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_024.jpg&oldid=- (Version vom 13.6.2019)