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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Commandanten und feigen Behörden überlieferten dem Feinde ohne Widerstand die Festungen Küstrin und das starke Magdeburg, alle Vorräthe und Schätze des Staates. Nicht nur die französischen Zeitungen und lügenhaften Bulletins des übermüthigen Siegers, sondern auch feile deutsche Lohnschreiber verfolgten die reine, unschuldige Königin mit den gemeinsten Schmähungen und Verleumdungen. Elende Menschen, welche sie mit Wohlthaten überhäuft, lohnten ihr mit Undank.

Auf dem Wege von Stettin nach Küstrin versagte ihr der rohe Amtmann in Bärwalde frische Pferde zu ihrem Fortkommen, sodaß sie mit den abgetriebenen Gäulen weiterfahren mußte. Mitten in ihrem größten Unglücke erinnerte sie sich jener rührenden Strophen des „Sängers“ in Goethe’s „Wilhelm Meister“, die sie damals zu Ortelsburg in ihr Tagebuch einschrieb:

„Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Ihr führt in’s Leben uns herein
Und laßt den Armen schuldig werden;
Dann überlaßt ihr ihn der Pein,
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.“


(Fortsetzung folgt.)




Aus dem jüdischen Familienleben.


Von S. Mosenthal.


Ich weiß nicht, wie es historisch zu begründen ist, daß wir Juden für die Mahlzeit am Freitagabend, als am „Eingang des Sabbaths“ ein Fischgericht für unerläßlich halten. Die Bibel zählt unter den nationalen Lieblingsspeisen nur die Zwiebeln und den Knoblauch auf. Ob sich das angestammte Fischgericht durch Petri Fischfang oder das Wunder mit den Fischen auf seine historische Quelle zurückleiten lasse, das mögen die Archäologen entscheiden. Soviel aber weiß ich, daß in meiner Vaterstadt, die eine überwiegend protestantische, eine kleine katholische und eine ziemlich beträchtliche jüdische Bevölkerung besaß, fast ausschließlich für die letztere jeden Freitag die Bauern der Umgegend am sogenannten „Fischstein“ ihren Markt hielten und jüdische Köchinnen in mehr oder weniger reinen Netzen, jüdische Hausväter in mehr oder weniger reinen Schnupftüchern ihr Contingent an „Schabbesfischen“ nach Hause trugen.

Das Gericht hatte einen solennen Anstrich. Für die Größe des Festes zeugte die Qualität der Fische; den drei hohen Festtagen gehörte der Lachs, den minderen der Karpfen in der spartanischen Sauce; die gewöhnlichen Sabbathe mußten sich mit Barben und Weißfischen begnügen. Doch ohne Unterschied der Rangstufen wurden die Fische stets von meiner Mutter eigenhändig zubereitet, denn mein Vater behauptete, daß Niemand auf Erden eine Fischsauce „à la Mutter“ bereiten könne. Mit gerechtem Stolz heftete die Mutter jeden Freitag Vormittag sich die weiße Schürze um, an deren beide Zipfel ich und meine kleinere Schwester uns klammern durften, um Zeugen bei diesem Wunder der Kochkunst zu sein. So oft nun die in Stücke zertheilten Fische aus dem blanken Messingkessel genommen und symmetrisch auf die lange Schüssel geordnet wurden (das Gericht wurde Abends kalt kredenzt), legte die Mutter das prächtigste Kopfstück auf einen besonderen Teller, bekränzte es mit Zwiebeln und Citronenscheiben, übergoß es mit der gewürzig duftenden Sauce und stellte es auf den weißgescheuerten Anrichtetisch mit den Worten: „Für Tante Guttraud.“

Allwöchentlich sahen wir Kinder diesen neidenswerthen Tribut hinwegtragen, ohne uns von der Zwangspflicht, die uns kopflose Fische auferlegte, Rechenschaft geben zu können. Tante Guttraud war eine Mutterschwester unserer Mutter, die mit einem kranken Mann und zwei ältlichen Töchtern in einem Gäßchen nahe der alten „Schul“, dem Bethaus der Strenggläubigen, ihre ärmliche Wohnung hatte, aus der sie nie den Fuß setzte. So oft aber die Mutter nur ihren Namen nannte, geschah es mit einem Ausdruck frommer Verehrung, zu der auch wir Kinder mit angehalten wurden, ohne sie zu begreifen oder je nach ihrem Grunde zu fragen. Ja unsere heilige Scheu gewann einer Anstrich von Furcht, wenn wir mit der Mutter Freitag Abends nach der „Schul“ (Gottesdienst) die alte hölzerne Treppe, die einen Strick statt des Geländers hatte, zur Wohnung der Tante Guttraud hinaufkletterten um uns, wie es die Mutter nun einmal eingeführt hatte, von ihr „benschen“ (segnen) zu lassen.

Noch heute lebt in meiner Erinnerung das Bild, ja der Geruch des Zimmers, in das wir nicht ohne inneres Widerstreben eintraten. Der Geruchssinn hat ein merkwürdig treues Gedächtniß. Indem ich Dieses niederschreibe, athme ich fast wieder jene Atmosphäre von Kohlendampf, Lampendunst und Kampherduft, die mir vor fünfzig Jahren auf die Brust fiel und die, wo ich sie jemals in den Wohnungen der Armuth wiederfand, mir unwillkürlich das Bild der Tante Guttraud in die Seele rief. Das Zimmer war tief und niedrig; von dem geschwärzten Querbalken der Decke herab hing eine siebenzackige Messinglampe; aus zweien ihrer Schnäbel dampfte eine Oelflamme und warf ein grelles Licht auf den darunterstehenden, mit weißem Tischtuch gedeckten runden Tisch, während der übrige Theil des wüsten Gemachs in dämmerndem Halbdunkel lag. Der wurmstichige Fußboden war mit weißem Sand bestreut, der unheimlich unter unseren Sohlen knisterte. In einer Ecke der Tiefe lohte ein eiserner Steinkohlenofen, aus dessen Aschenthür die Windstöße qualmende Wölkchen trieben; in der anderen stand ein Bett mit roth und blau gewürfelten Kattunvorhängen, in welchem der Mann der Tante, den wir nie Onkel nannten, gichtkrank lag, die Hände und Füße in Kampherkissen eingebunden. Auf einem ledernen Lehnstuhl, unfern dem Bette, saß die Tante. Eine dicke in schwarzes Leder gebundene Tfille (Gebetbuch) haltend und die Lippen noch stumm bewegend, erhob sie sich, uns zu begrüßen. Die Mutter reichte ihr die Hand mit einer Bewegung, als verneigte sie sich vor der Greisin, die das Haupt der Mutter sanft an ihre Schulter lehnte und ihr mit der flachen Hand wiederholt über die Stirn strich. „Benschen Sie meine Kinder, Tante Guttraud!“ sagte sie jedesmal, denn die demüthige Greisin schien auf diese Bitte zu warten. Nun folgte sie und trat ein paar Schritte näher in den lichteren Raum auf uns zu, die wir uns scheu an die Ecke des Tisches geklammert hatten.

Tante Guttraud war von mittlerem Wuchs und schmächtiger Gestalt, die ein wenig gekrümmt oder vielmehr gebrochen schien, und die ein Kleid aus dunkelm Druckkattun eng umschloß. Ueber die Brust war ein weißes Tuch ohne jeglichen Zierrath gekreuzt, das ihr bleiches Antlitz fast wachsgelb erscheinen ließ. Ueber der Stirn schloß ein schwarzes Band die Haare sorgfältig ein; eine weiße Tüllhaube umrahmte das strenge vornehme Gesicht. Die Nase war so fein gezogen, daß sie wie durchscheinendes Elfenbein erschien, die schmalen Lippen ließen, geöffnet, wohlerhaltene Zähne sehen; unter stolz gewölbten dunkeln Augenbrauen leuchteten rehbraune Augen in feuchtem Glanz wie unter Thränen hervor. Zwei magere wachsgelbe Hände legten sich auf unser Haupt. Innig und seelenvoll hoben sich die Augen zum Himmel empor; die Lippen bewegten sich zur Segensformel so leise, daß wir nur das Summen der Fliegen hörten, die um die Flamme der Ampel schwirrten, und das leise Stöhnen aus dem Bette, dessen Vorhänge den Kranken verhüllten. Dann küßte sie uns auf die Stirn, und wir zogen zaghaft ihre dürre Hand an die Lippen. Mit kaum hörbarem Schritt bewegte sich die Greisin zu einem Glasschrank, aus dessen trüben Scheiben ein paar bemalte Kaffeetassen hervorlugten, und nahm aus einer Schublade zwei Borsdorfer Aepfel, mit welchen wir uns unterhielten, während die Mutter, zum Sitzen genöthigt, eine halblaute Conversation mit ihr begann.

„Wie geht es Ihnen, liebe Tante?“

„Gott sei Dank! nicht schlechter. Die böse Gicht ist hartnäckig, zumal im Herbst, aber Gott wird helfen.“

„Haben Sie heut Nacht ein wenig geschlafen?“

„Ein wenig; alte Leut’ brauchen nicht viel Schlaf. Er schläft auch wenig, aber Appetit hat er, Gott sei Dank, und die Fisch’ haben ihn delectirt. Es kocht sie auch Keine so, wie meine Betty.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_028.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)