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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

der ein freisinniger Mann war, nahm noch zwei Deputirte aus der Gemeinde mit, und sie beschworen den Bürgermeister, diese Schande von der Gemeinde abzuwenden; der Pöbel könnte sie zu einem Krawall ausbeuten und bei allen Juden die Fenster einschlagen. Der Bürgermeister zuckte die Achseln; er wußte zu gut, woher der Wind blies; ‚da sei nichts zu machen; für die Sicherheit der Andern werde schon Sorge getragen werden.‘ Nun brachte man unter den Verwandten hundert Thaler zusammen und gab sie dem Leibkammerdiener des Kurfürsten, der bei ihm sehr einflußreich war, damit er ein gutes Wort einlege; die hundert Thaler blieben bei ihm, aber es blieb auch bei dem entsetzlichen Richtspruche.

Was ich in jener schrecklichen Zeit gelitten habe, kann ich Dir nicht schildern. Stundenlang saß ich Nachts weinend im Bette auf, und nur ein Blick auf meinen Mann und meine Kinder gab mir die Ruhe, wieder einzuschlafen. Die Tante Guttraud staunte ich nur an, wenn es mir gelang, sie auf ihrem Gange in die Casematten zu sehen und zu sprechen. Sie war so ruhig und gottergeben, als wäre es ein Blitzstrahl oder ein Todesfall, den der Allmächtige ohne menschliches Zuthun über sie verhängt hätte, und dem man sich schweigend beugen müßte. Die Mädchen verkrochen sich in ihre Kammer und ließen sich vor keinem Menschen sehen. Wir schickten täglich der Reihe nach das Essen hinüber, es kam aber fast immer unberührt in den Einsatzschüsseln wieder zurück.

Am nächsten Freitag Nachmittag sollte das furchtbare Schauspiel vor sich gehen. Damals stand das alte Rathhaus noch auf dem Markte, an der Ecke der Fischgasse, mit seinem hohen Schieferdache und seinen spitzen Thürmchen. Unter der Uhr stand der schöne Spruch: ‚Eins Manns Red’ keins Manns Red’, du sollst die Part hören beed’.‘ Ich weiß nicht, ob Du Dich noch daran erinnern kannst? Gerade gegenüber, wo die seligen Großeltern wohnten. Und gerade an der Ecke war ein Erkerthürmchen, zu gleicher Erde auf den Gassenstein stoßend, von außen vergittert, von innen mit einer drehbaren Wand versehen, an die gefesselt der arme Sünder mit entblößter Brust herausgeschoben ward, um den Schimpfwörtern der Menge und den Steinwürfen des Pöbels preisgegeben zu sein. Diese scheußliche Procedur, die das menschliche Gefühl empört und die thierischen Leidenschaften aufstachelt, hatte die fromme evangelische Regierung wieder eingeführt, nachdem die gottlosen Franzosen sie bei uns abgeschafft hatten. Und da sollte nun der ausgestellt werden, der – leider Gottes! – zu unserer Familie gehörte, auf der kein Unthätelchen eines Makels jemals gehaftet hatte. Den Tag vergeß’ ich nie. Er war für die ganze Gemeinde ärger als Tischi-b’af (Zerstörung Jerusalems). Die Läden der Juden blieben alle geschlossen; auf der Straße war Keiner zu sehen; selbst die Kinder behielt man aus der Schule zu Hause, damit ihnen die Gassenjungen kein Leid anthäten.

Ich muß Dir sagen, Kind, daß ich mir feig und elend vorkam, zu Hause zu bleiben und an mich zu denken, wo die arme Tante Guttraud in Kummer und Herzeleid vergehen mußte. Ist es ein gottgefälliges Werk, zu Sterbenden zu gehen – wie darf man da eine allein lassen, deren Seele eines hundertfältigen Todes stirbt? Ich sagte es Deinem Vater. ‚Thu’ was Du willst!‘ sagte er, ‚ich geb’ schon auf die Kinder Obacht.‘ Ich nahm mein Tuch und lief hinüber, ohne mich umzusehen, aber ich fand die Thür verschlossen und klopfte und rüttelte vergebens. Die Nachbarin, die Schneiderin Engelbrecht, kam auf die Stiege und sagte mir, die Mädchen hätten sich von innen eingeriegelt und die arme Madame sei fort. – Fort! fort! Wohin?. ‚Weiß man’s denn,‘ sagte die Engelbrechtin achselzuckend, ‚der Mensch in der Verzweiflung weiß nicht, was er thut. Herrje, die arme Frau dauert mich.‘ Ich schlich davon mit noch schwererem Herzen. Solltest Du’s glauben, Kind – ich war im Stande, das, was die Frau gedacht, der Heiligen zuzutrauen. Jawohl! Sie hat sich was angethan. Aber wie schämte ich mich, als ich erfuhr, was sie sich angethan hatte!

Die Stunde war gekommen; eine unzählige Volksmenge füllte den Markt; die brutale Masse freute sich auf das brutale Schauspiel, und johlte Schimpflieder auf die Juden. Man hatte Polizeidiener und Militär aufgestellt und die nächsten Zugänge zum Rathhause abgesperrt. Vom großen Fenster herab verlas ein Gerichtsschöffe das Urtheil, dem die Menge schallend zujubelte, und nun drehte sich die verhängnißvolle Wand und mit entblößter Brust, das Haupt gesenkt, das der im Kerker verwilderte Bart noch mehr entstellte, ward der Unglückliche sichtbar. Ein neues, noch wilderes Geheul. Schon bückten sich Einzelne nach Kieselsteinen, die den Verbrecher treffen sollten – da – (Alles, was ich Dir hier erzähle, war im Wochenblättchen genau beschrieben) da öffnete sich die kleine Thür des Rathhauses in der Fischgasse, und sie trat heraus, Tante Guttraud, in den von den Soldaten abgesperrten Raum und statt hindurch zu gehen, blieb sie am Eckstein vor dem Pranger stehen, hob sich am Eisengitter mit der dürren nackten Hand empor und stand, frei und Allen sichtbar, dicht neben dem Manne auf der Schandbühne, dem Manne, dem sie unter der ‚Chuppe‘ Treue geschworen hatte. So stand sie stundenlang, und nicht mit der Verzweiflungsmiene, wie man die Mutter unter dem Kreuze abgemalt sieht, nein, ruhig, als ob sich das von selbst verstünde, mit den Lippen nur leise zuckend, als ob sie innerlich bete, und die Augen auf ‚Ihn‘ geheftet, der zu ihr hinabsah, während dicke Thränen in seinen Bart fielen, die er sich nicht abtrocknen konnte.

Das war, wie wenn ein Blitz, nein, wie wenn ein Lichtstrahl von Gott auf die Menge gefallen wäre. Die Schimpfworte und das Geheul waren verstummt. ‚Sein Weib! Sein Weib! Sein unschuldiges Weib!‘ rief eine Stimme gedämpft der anderen zu, und so Viele schlichen sich davon, daß die Soldaten kein Gedränge mehr abzuwehren hatten. Der Pfarrer Mathias, der zum Abendsegen in die ‚Brüderkirche‘ gehen wollte, und der das Vorgefallene in der Marktgasse erfuhr, trat nahe heran – und zog den Hut ab.

Wie ein Lauffeuer war’s durch die ganze Gemeinde geflogen und nach und nach war Alles auf den Markt geströmt. Das Gefühl der Schande war aus allen Herzen gewichen und hatte dem des Stolzes Platz gemacht. Das Verbrechen war überall und zu allen Zeiten erhört; unerhört war nur das Märtyrthum der ehelichen Treue. Das war ein stilles Bewundern, ein Kopfschütteln, ein Zunicken, ein Schluchzen der Rührung, und der alte Raf (Rabbiner) hob die Hände empor und rief laut: ‚Gott, verzeih’ mir’s, so alt ich bin, weiß ich doch nicht, was man darüber für eine Broche (Segensspruch) machen soll.‘

Ich glaube immer, es war auf des Bürgermeisters Schomburg Einschreiten, daß die Zeit abgekürzt wurde und der Arme bald darauf den Blicken entschwand. Nun wollte die Menge das Spalier durchbrechen; sie hätten vielleicht auf den Händen die Tante Guttraud nach Haus getragen, aber sie war durch dasselbe Thürlein verschwunden, durch das sie eingetreten war. Man hat sie auch vergebens besuchen wollen, obwohl der Parneß und die ganze Gemeinde jetzt auf einmal den Weg zu ihr fanden. Sie war bei ‚Ihm‘ in seiner Zelle oder schloß sich mit den Ihrigen ein. Einmal fand ich sie nach vielen fruchtlosen Versuchen, und es zog mir die Kniee herab, als wenn man Kaurim fällt (der Fußfall am Versöhnungstage), aber sie sah mich mit strafenden Blicken an und sagte: ‚Betty, was thust Du für eine Ewere (Sünde)! Was würde Deine Mutter – der Friede sei mit ihr! – denken; sie war zehnmal besser als ich.‘

Als die Kurprinzessin auf die Welt kam, wurden Viele begnadigt und Vielen die Strafzeit abgekürzt. Da ist ‚Er‘ auch herausgekommen. Aber in den feuchten Casematten waren seine Hände und Füße gichtbrüchig geworden, und so lag er den Rest seines Lebens danieder, wie Du ihn noch gesehen hast, eingewickelt in Kampherkissen und von seinem treuen Weibe gepflegt, wie ein krankes Kind. Die Familie steuerte eine bescheidene Jahresrente zusammen, die durch Vermittelung der Mädchen dem kleinen Haushalte zu gut kam.

Kurz nachdem Du unsere Stadt verlassen hattest, ward ‚Er‘ von seinen Leiden erlöst. Die Lebensaufgabe der Dulderin war vollendet; da sie nichts mehr auf Erden zu thun hatte, rief sie Gott bald darauf in seinen Vaterschooß zurück. Die älteste Tochter ist Lehrerin in einer Arbeitsschule geworden, die jüngere hat einen Landlehrer geheirathet.

Das ist die Geschichte der Heiligen, die unter diesem Steine ruht.“

Die Mutter erhob sich, hinter dem Eichenwäldchen sank die Sonne und sendete einen letzten Strahl, der sich in dem thränenfeuchten Auge der Mutter spiegelte. „Giebt es noch solche Weiber in Israel?“ fragte sie.

Ich sah sie schweigend an und drückte ihr die geliebten Hände.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_031.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)