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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

des frevelhaften Attentats auf die Spur zu kommen geeignet sind oder zur Beruhigung der erschreckten Gemüther beitragen. Vielleicht ist die entdeckte gewissenlose Speculation, welche sich ohne Rücksicht auf Menschenleben auf den Geschäftsbetrieb des modernen Verkehrs gründet, nur ein einzelner Fall oder, wie andere Andeutungen vermuthen lassen, ein Complot, dessen Vernichtung im Interesse der Menschheit geboten ist.

Noch einen trauernden Blick werfen wir auf die frischen Gräber, welche die Gebeine von nahezu hundert gemordeten lebensfrohen Menschen umschließen, auf die fast ebenso große Zahl der Verstümmelten und schwer Verletzten. 56 Wittwen und 135 vaterlose Kinder sind durch die Katastrophe ihrer Ernährer beraubt worden. Möchte doch opferwillige Nächstenliebe ihre Trauer und ihren Schmerz zu lindern versuchen!




Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Die Wegebeschaffenheit jener Zeit gehörte bekanntlich zu den mancherlei Dingen der Vergangenheit, die für unsere Generation den Charakter des Räthselhaften und Mystischen haben. Zum Glücke hatte damals der schöne trockene Herbst sie so erträglich gemacht, daß die vier starken fürstlichen Braunen in ununterbrochener rascher Gangart dahin eilen konnten. Trotzdem blieb zu Unterredung und gründlicher Berathschlagung den Fahrenden vollauf Zeit; man hatte drei Meilen weit bis zum Ziele. Elisabeth sprach gegen ihren Vater Alles aus, was sie ihm von ihrem Verkehre mit dem unglücklichen Manne, um den es sich handelte, nur irgend berichten konnte, und sie wußte dadurch dem Fürsten selber eine innere Theilnahme für diesen Mann abzugewinnen, der doch seiner Tochter und dadurch auch ihm ein solches Leid zugefügt hatte, und an den er deshalb nur in Entrüstung und Zorn hätte denken können. Ja, Elisabeth durfte endlich wagen, ihm den Vorschlag zu machen, den Präfecten dadurch zu täuschen, daß man ihm erkläre, der Verhaftete sei durchaus unschuldig an dem aufgehobenen Waffendepot – wenn er sich mit falscher Namensangabe und in größter Verborgenheit im Lande aufgehalten, so sei das deshalb geschehen, weil er mit Elisabeth heimlich verlobt sei gegen des Vaters Willen; wenn sie, die Prinzessin, das offen erkläre und der Fürst dem nicht widerspreche, so – davon war Elisabeth überzeugt – mußte der Präfect ihren Vorstellungen nachgeben und den Gefangenen frei lassen.

Dem Fürsten war nun auch diese Zumuthung schrecklich, aber sein Widerstreben, seine Einwürfe erstarben nach und nach, und je tiefer er in die verzweifelte Seelenpein seines Kindes blickte, desto mehr fühlte er sich bezwungen und zu einer Handlungsweise hinübergedrängt, die ihn in einen flagranten Widerstreit mit sich selber warf, in den er sich doch endlich ergab, wie in etwas Unvermeidliches, vom Schicksal über ihn Verhängtes, das ihn mit einer Gewalt faßte, in deren Händen er sich selber wohl bemitleiden, aber nicht retten und helfen konnte.

Und so rasselte die Kalesche, brausten die Braunen, zuletzt schweiß- und schaumbedeckt, dahin. Wer den stattlichen Wagen mit den reichgeschirrten Vieren davor, mit Kutscher und Bedienten in der fürstlichen Livrée, vorüberrollen sah, der ahnte sicherlich nicht, welch tief bekümmerte zwei Menschenherzen im Innern dieses Wagens schlugen.

Und endlich rasselte er über das schlechte Steinpflaster der Gassen der Präfecturstadt, dann noch über einen weiten, mit Bäumen bepflanzten Platz, und zuletzt rollte er donnernd unter das gewölbte Einfahrtsthor des großen Schloßgebäudes, in welchem statt des früheren Landesherrn jetzt der Präfect eines französischen „Departements“ residirte. Der Fürst und seine Tochter stiegen aus und die hohe Ehrentreppe hinan, von einem französischen Lakaien empfangen, der sie durch große schöne Räume mit altem Rococoschmucke, vergoldeten Stuckarbeiten und prunkvollen Deckengemälden in einen Empfangssalon führte und dann ging, seinen Herrn herbeizuholen. Elisabeth klopfte das Herz so sehr, daß sie sich in einen der rothsammtenen Lehnsessel niederlassen mußte – der Fürst ging während des Harrens auf und nieder und murmelte dabei:

„Dahin wär’s denn gekommen, daß ein deutscher Fürst bei solch einem französischen Abenteurer antichambriren muß. Nimm Dich zusammen, Elisabeth! Es wird Deine Sache sein, zu reden – ich bin einem solchen Menschen gegenüber nicht im Stande, viele Beredsamkeit aufzubieten …“

Doch hatte er Unrecht, sich über Antichambriren zu beklagen; die beiden Flügel der Thür wurden rasch aufgeworfen, und der Präfect erschien, mit großer Beflissenheit und Zuvorkommenheit seinem Besuche entgegen eilend. Es war ein mittelgroßer, magerer Mann, Franzose in seinem ganzen Wesen und Gebahren, so durch und durch Franzose, daß er, jahrelang das Haupt der Verwaltung eines Stückes deutschen Landes, auch nicht das kürzeste Gespräch in deutscher Sprache zu führen verstand. Nach dem ersten Austausche von Höflichkeiten und nachdem der Präfect seinen Besuch bewogen, auf einem breiten Wanddivan Platz zu nehmen, dem gegenüber er sich auf ein bescheidenes Tabouret niederließ, sagte der Fürst:

„Wie Sie voraussetzen werden, Herr Präfect, kommen wir mit einer Bitte, die sich an Ihre Menschenfreundlichkeit wendet, an die Güte, welche Sie mir schon einmal bewährt haben; es handelt sich heute abermals um einen unschuldig Verhafteten, nur mit dem Unterschiede, daß diesen ein weit ärgeres Loos bedroht, als damals meinen alten Meyer. Es handelt sich um ein Waffendepôt, das in meiner Nachbarschaft aufgehoben ist.“

„Ach ja, in der vergangenen Nacht,“ fiel der Präfect, dessen Miene sich plötzlich um ein Bedeutendes verfinsterte, ein. „Ich habe mich gerade in diesem Augenblicke mit der Sache beschäftigt und den Emissär der Alliirten, dessen man zugleich habhaft geworden ist, mir vorführen lassen.“

Elisabeth empfand eine furchtbare Erschütterung bei dieser Andeutung, daß der Verhaftete in ihrer nächsten Nähe, vielleicht nur durch ein paar Thüren von ihr getrennt sei, während ihr Vater, der nun doch einsah, daß er zuerst den Redner und Fürsprecher machen müsse, fortfuhr:

„Wenn Sie ihn sprachen, werden Sie sicherlich bereits den Eindruck empfangen haben, daß es sich bei diesem Manne nicht um einen Schuldigen handelt – nur der Umstand, daß er sich längere Zeit und leider auch unter einem ganz falschen Namen in unserer Gegend aufhielt, hat den Verdacht wider ihn erweckt …“

„Verdacht?“ unterbrach ihn der Präfect. „Es liegt eine ganz bestimmte Denunciation wider ihn vor, dieselbe, welche zur Entdeckung des Waffenvorrathes führte.“

„So ist,“ rief hier Elisabeth stürmisch bewegt aus, „diese Denunciation eine ruchlose Verleumdung. Der Mann, der in Ihren Händen ist, hat nicht daran gedacht, hochverrätherische Pläne gegen die Macht des Kaisers zu verfolgen; er ist einzig und allein in unsere Nachbarschaft gekommen, weil er mich liebte, und wenn er einen falschen Namen angab, wenn er sich verborgen hielt, so geschah dies, weil mein Vater seine Leidenschaft nicht ahnen durfte.“

Der Präfect sah sie höchst befremdet an.

„Ich zweifle durchaus nicht an Ihrer Versicherung, meine gnädigste Prinzessin, daß ein junger Mann, der das Glück hatte, Sie zu sehen, Sie liebt,“ versetzte er mit einem überlegenen Lächeln. „Wir leben aber nicht in Arkadien, und ein junger Mann pflegt in den Mußestunden, welche ihm eine solche Leidenschaft läßt, doch noch andere Beschäftigungen zu treiben, mehr oder minder harmlose. Ihr Emissär hat uns über die seinen ein vollständiges Bekenntniß abgelegt.“

„Ah!“ rief der Fürst aus, „er selbst hat Ihnen bekannt?“

Elisabeth war tödtlich erbleicht.

„So ist es; soeben hat er selbst Alles zugestanden,“ bejahte der Präfect.

„Der Unglückliche!“ flüsterte der Fürst.

Elisabeth hatte Mühe, unter der Wucht dieser Erklärung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_038.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)