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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„verrätherische Regierung“ uns seit sechs Monaten vorenthalten hat. Glückauf!

So lautete die öffentliche Meinung in Montmartre, Villette, Belleville „und der Enden“ – (wie die Schweizer sagen). Und das übrige Paris? Schwieg still und ließ mit sich machen, was man wollte. Tausende blieben vor den drei signalisirten Straßenplakaten stehen, lasen Inhalt und Unterschriften, begnügten sich aber, zu fragen: „Wer sind diese Leute?“ und gingen theilnahmelos weiter.

Nun, „diese Leute“ waren allerdings lauter „viri obscuri“, obscurissimi, aber sie gaben, mit rothen Schärpen umgürtet, Befehle, und man gehorchte ihnen. Nicht etwa nur der Ouvrier, sondern mit ganz besonderer Beeiferung auch der richtige Epicier von Paris, wie nicht weniger der Kleingewerbemeister, unter welchen Bevölkerungsklassen die thörichte Verordnung der Regierung, alle während der deutschen Belagerung der Hauptstadt gestundeten Wechsel müßten sofort eingelöst werden, großen und gerechten Zorn erregt hatte. Noch ein ähnlicher harter Regierungserlaß, demzufolge alle seit den Belagerungsmonaten rückständig gebliebenen Miethen alsbald bezahlt werden sollten, traf die sogenannte kleine Bourgeoisie schwer. Es wäre nicht nur billig gewesen, es war schlechthin nothwendig, gerade den Leuten vom Mittelstande, welcher ja seit dem September von 1870 in Paris am schwersten gelitten hatte, die nöthigen Fristen zur Erfüllung von Befindlichkeiten zu geben, die ein Theil des Nationalunglücks waren.

Ueberhaupt muß man sagen, daß die Regierung vor wie nach dem Ausbruch der Insurrektion übel berathen war. Die ganze Art und Weise, wie sie durch die Maires von Paris und die Abgeordneten der Hauptstadt zur Nationalversammlung die Vermittelungsverhandlungen mit dem Centralkomité führen ließ, beweis’t dies. Einen weiteren Beweis giebt die Ernennung des Admirals Saisset zum Oberkommandanten der Pariser Nationalgarde ab; denn der Ernannte hat sich ja ganz unfähig erwiesen, die Situation auch nur zu verstehen, geschweige sie zu beherrschen. Der gute Seemann that, als hätte er es mit angeheiterten, aber im Grund gutmüthigen Matrosen zu thun, während er es doch mit „diesen Leuten“ zu thun hatte. Da konnte nur ein schmähliches Fiasko herauskommen.

Wenn man vollends erwägt, daß sich die besitzenden Klassen in Paris denn doch allmälig ermannten, daß die Nationalgarden der mittleren und westlichen Quartiere, nahezu 30,000 Mann, eine Abordnung an Thiers nach Versailles schickten, um ihm sagen zu lassen, daß sie acht Arrondissements besetzt hielten und, so er ihnen Officiere, Geschütze und Munition schickte, bereit wären, gegen die Insurgenten zu marschiren, und wenn man dem gegenüber die kühle Ablehnung von seiten des Herrn Thiers erwägt, der zurücksagen ließ, er könnte ihnen nicht helfen und riethe ihnen, mit Kind und Kegel Paris zu verlassen, so dürfte man mittels dieser Erwägungen unschwer zu der Schlußfolgerung gelangen, das Haupt der Exekutivgewalt müßte von vornherein dahin sich entschieden haben, keine „zertheilende“ Salbe aufzustreichen, sondern vielmehr das Kommunegeschwür reifwerden zu lassen, um es aufzuschneiden und auszubrennen. Er hat dann wirklich so gethan. Aber wer könnte so thöricht sein, zu wähnen, die Eisen- und Feuerkur habe geholfen? Sie war nur ein Palliativmittel, nichts weiter. Das Krebsgeschwür wird wieder kommen, da oder dort. Die Krankheit steckt ja der Gesellschaft im Blute.

Was die Herren Citoyens vom Stadthause betrifft, so konnte es ihnen nur recht sein, die Regierung mit Unterhandlungen zu „amüsiren“, bis sie sich allseitig in der Macht festgesetzt hatten. Sobald dies geschehen, ließen sie die Unterhändler barsch abfahren.

Die „Ordnungspartei“ raffte sich am 21. und 22. März zu einer „Friedensdemonstration“ auf, die ja recht wohlgemeint war, aber sehr übel verlief. Am erstgenannten Tage sammelte sich um halb zwei Uhr ein Häuflein von zwanzig Männern auf dem Platze vor der neuen Oper. Einer, und zwar ein Liniensoldat, trug der sich in Bewegung setzenden Gruppe eine Fahne vor mit der Inschrift „Union des amis de l’ordre“. In ihrem Vorschreiten durch verschiedene Straßen und Quartiere vergrößerte sich die Procession der Ordnungsfreunde rasch. Die Boulevards entlang wurden sie allenthalben aus den aufgerissenen Fenstern mit den Rufen: „Es lebe die Ordnung! Hoch die Nationalversammlung! Nieder mit der Kommune!“ empfangen. Widerstand fanden sie keinen. Da und dort präsentirten sogar Abtheilungen der Nationalgarde, an deren Aufstellungen sie vorüberkamen, vor ihnen das Gewehr. So in der Rue Drouot und in der Rue de la Paix. Auch den Zutritt zum Platz Vendôme, der von „föderirten“ Bataillonen strotzte, wehrte man ihnen nicht. Als sie unter den Fenstern des Generalstabsgebäudes angelangt waren, trat oben ein junger, rothbeschärpter Mann auf den Balkon heraus und rief herunter: „Bürger, im Namen des Centralkomité. …“ „Alsbald jedoch“ – so berichtet ein Theilnehmer an der Friedenskundgebung – „alsbald wurde er von unserer Seite durch ein vielstimmiges Pfeifen und durch die Rufe unterbrochen: ‚Hoch die Ordnung! Hoch die Nationalversammlung! Hoch die Republik!‘ Dessenungeachtet wurden wir in keiner Weise angegriffen, nicht einmal bedroht. Wir umzogen die Napoleonssäule und marschirten wieder auf die Boulevards hinaus nach dem Eintrachtsplatze.“ Die Procession kam schließlich zu ihrem Ausgangspunkte auf dem Opernplatze zurück. Sie zählte jetzt wohl an viertausend Köpfe, und vor dem Auseinandergehen traf man die Verabredung, am folgenden Tage zur selben Stunde die heute so gelungene Kundgebung zu wiederholen.

Diese Verabredung ist eingehalten worden, und zur bestimmten Stunde setzte sich demnach am 22. März eine unbewaffnete, aber theilweise mit der Uniform der Nationalgarde angethane Schaar von Ordnungsfreunden, nach etlichen Angaben nicht weniger als zehntausend Männer, jedenfalls aber mehrere tausende, von der neuen Oper aus in Bewegung. Neben den schon gestern erschollenen Friedens- und Ordnungsrufen vernahm man aus den Reihen ab und zu auch diesen: „Man muß dem Centralkomité seine angemaßte Gewalt abfordern und abnehmen.“ Dieser Ruf deutete offenbar darauf hin, daß nicht alle Theilnehmer an dem Zuge lediglich friedlich demonstriren wollten. Auch das vorhin gebrauchte „unbewaffnet“ kann nicht von allen gelten. Denn es untersteht keinem Zweifel, daß etliche der Ordnungsfreunde mit Revolvern und Stiletstöcken bewaffnet gewesen sein müssen.

Es ist möglich, daß von keiner der beiden Parteien ein gewaltsamer Zusammenstoß vorhergesehen, gewollt oder gar geplant war. Aber nicht weniger möglich ist, daß ein solcher Zusammenstoß von beiden Seiten gewünscht war. Denn beide Parteien konnten es ganz wohl in ihrem Interesse finden, einen Bruch herbeizuführen. Wenigstens einzelne Personen hüben und drüben konnten die Sache so ansehen. Gewißheit zu erlangen, wird wohl nie möglich sein.

Eine große Trikolore wird dem Zuge vorangetragen, in welchen auch der Admiral Saisset sich eingereiht hat. Man erblickt neben der Uniform der Bürgerwehr auch die der Linie und der Marine, viele Fräcke und Paletots, keine Bluse. Als Erkennungszeichen haben die Ordnungsfreunde ein blaues Band in’s Knopfloch geknüpft. Durch die Straße Neuve St. Augustin, dann durch die Straße de la Paix. Aber beim Ausmünden auf den Vendômeplatz, allwo Kanonen und Mitrailleusen aufgefahren und die Föderirten unter den Waffen sind, stockt die Procession.

Wenn man dem Abbé Lamazou, welcher als Diener der bekannten „Religion der Liebe“ seine Erlebnisse während der Kommune-Zeit erzählt hat, glauben wollte, so hätten, was jetzt geschah, einzig und allein die Rothen auf dem Gewissen. Wir wollen den Zeugen abhören, weil es bei dem ungeheuren Beifall, welchen sein Buch „La place Vendôme et la Roquette,“ 12. édit. 1873, in Frankreich gefunden, immerhin von Interesse sein dürfte, eine Stimme aus der schwarzen Internationale über die rothe zu vernehmen. „Beim Eingang zum Vendômeplatz stieß die Marschkolonne, ermuthigt durch die Quartierinsassen, auf ein Insurgentenkorps, welches Bergeret kommandirte. Dieser ließ seine Leute in Schlachtordnung treten und die Bajonnette kreuzen. Einige Augenblicke später konnte ich mit eigenen Augen bemerken, daß diese Insurgenten fast durchweg Leute von vorgerücktem Alter waren. Betrunken und abgerissen, wie sie waren, stellten sie sich so recht dar als die wüsten Gesellen, welche der Aufruhr auf die Gassen speit und welche das letzte Aufgebot des knechtischen Hundepacks bilden (qui forment le dernier ban de la canaille servile). Es gab darunter eine nicht geringe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_063.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)