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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

diesen Menschen erschien der Himmel stets rosenfarben und alles Uebrige grün in Tönen vom Gelben bis zum Braunrothen. „Wenn man,“ sagt Goethe, „die Unterhaltung mit ihnen dem Zufalle überläßt und sie blos über vorliegende Gegenstände befragt, so geräth man in die größte Verwirrung und fürchtet, wahnsinnig zu werden. Mit einiger Methode hingegen kommt man dem Gesetze dieser Gesetzwidrigkeit schon um Vieles näher.“

Die Untersuchungsmethoden, welche man bisher zur Erkennung der Farbenblindheit anwandte, waren zeitraubend und unsicher. Die gebräuchlichste Methode beruhte darauf, eine große Anzahl farbiger Muster sortiren zu lassen. Der Umstand, daß Farbenblinde durch große Uebung den Mangel an Farbenempfindung verdecken können, indem sie die Lichtabstufungen als Farben bezeichnen, läßt obige Methode als eine unsichere erscheinen. Ich kenne einen total Farbenblinden, einen sehr scharfen Beobachter, der mir erzählte, daß er zwar keinen Begriff davon habe, was wir unter Farben verständen, daß er aber „mit dem Verstande“ die Farbentöne, die er durchaus empfinde, dennoch erkennen könne.

Heutzutage haben wir ein ganz vorzügliches Mittel, die Verirrungen und Verwechselungen Farbenblinder auf ihren wahren Werth zurückzuführen. Es beruht in der Anwendung der Spectralanalyse zur Erkennung der Farbenblindheit. Bekanntlich zeichnet das Sonnenlicht, das man in Form eines Strahlenbündels durch eine runde kleine Oeffnung eines dunkeln Zimmers direct einfallen läßt, einen hellen Kreis auf die der Oeffnung gegenüberliegende dunkele Wand. Hat man dagegen ein Glasprisma zwischen die Wand und die Oeffnung gesetzt, so werden die Strahlen abgelenkt. Der helle Kreis ist elliptisch in die Länge gezogen und zeigt die ungleich lichtstarken Hauptfarben des Regenbogens, das sogenannte Spectrum, bestehend aus Roth, Orange, Gelb, Grün, Hellblau, Dunkelblau und Violett; wenn wir die zarten Uebergänge von einer Farbe in die andere außer Acht lassen, zeigen sich vier Hauptfarben, Roth, Gelb, Grün und Blau.

Es sind dies ganz dieselben Erscheinungen, welche uns in unserer Kindheit bei den Spielen mit geschliffenen Glasstücken oder herabgefallenen Kronleuchterprismen so sehr erfreut haben. Wer erinnert sich nicht gerne der frohen Jugendzeit, da wir im Lichte eines erhaschten Stückchens facettirten Krystallglases in dem prachtvollsten Regenbogenfarbenglanze unser Auge minutenlang schwelgen ließen!

Diese Regenbogenfarben werden, wenn das Licht durch einen recht engen Spalt in das Zimmer eingelassen wurde, von einer Anzahl feiner dunkler Parallellinien durchsetzt, die auf dem Längendurchmesser des Spectrum senkrecht stehen, und nach ihrem ersten Beobachter, dem berühmten Münchener Optiker, Frauenhofer’sche Linien genannt werden.

Die Bedeutung dieser Linien hatte man bis zum Jahre 1859 nicht gekannt. Nachdem der geniale Physiker Kirchhoff nachgewiesen hatte, daß jedes Metall im glühenden Zustande sein eigenes System von Streifen ausstrahle, das ebenso charakteristisch für dasselbe ist, wie alle seine anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften, wurde plötzlich auch die in dem Sonnenspectrum sich findende dunkele Streifung erklärlich. Jede solche Linie bedeutet ein auf der Oberfläche der Sonne brennendes Metall. Professor Kirchhoff hat den Satz aufgestellt, daß ein Gas oder ein Dampf alle diejenigen farbigen Strahlen absorbirt, das heißt nicht durchpassiren läßt, die es selbst ausstrahlen kann. Die Körper, welche mit rother Farbe verbrennen, werden einen Dunstkreis um sich verbreiten, der kein rothes Licht durchläßt; die gelb verbrennenden Körper lassen kein gelbes, die grün verbrennenden kein grünes und die blau verbrennenden Körper kein blaues Licht passiren. Die dunkeln Linien im Sonnenspectrum, das heißt in der aus dem Sonnenlichte mittelst eines eigenthümlichen Apparates dargestellten regenbogenartigen Farbenscala, sind demnach ausgelöschte Lichtpartien, bedingt durch das Passiren der Lichtstrahlen durch die Sonnenumgebung, die sogenannte Photosphäre, welche aus glühenden Metallgasen besteht.

Läßt man nun einen theilweise Farbenblinden durch einen Spectralapparat die sich bildenden Regenbogenfarben des Spectrums, die dem normalen Auge in der oben bezeichneten Reihenfolge roth, gelb, grün, blau, violett erscheinen, betrachten, und ist er z. B. rothblind, so wird er das rothe Ende des regenbogenfarbigen Spectrums gar nicht sehen. Es existirt gar nicht für ihn, und es wird ihm die Breitenausdehnung des Spectrums oder eines Regenbogens um die Strecke, welche auf ein normales Auge den Eindruck von Roth macht, verkürzt erscheinen. Er sieht alsdann nur zwei Farbennüancen, Gelb und Blau, indem sein Regenbogeneindruck mit Gelb anfängt und dieses Gelb, mit Auslassung des Grün, allmählich in Blau übergeht. Ebenso erscheint dem Blaublinden auf der entgegengesetzten Seite im Apparate der künstlich erzeugte Regenbogen, das Spectrum, verkürzt, da ihm der Eindruck des anderen Endes, das Blau und Violett, fehlt; bei ihm geht Roth allmählich in Grün über, und mit Grün hören seine Farbeneindrücke auf, während die Totalfarbenblinden im Apparate gar keine Farben wahrnehmen, sondern nur eine Anzahl von in den einzelnen Partieen mäßig differenzirten Helligkeitsstreifen erblicken. Um bei der Erkennung der Farbenblindheit ganz sicher zu gehen, läßt man den Farbenblinden durch ein Spectroskop nach verschiedenen Flammen sehen, deren Licht durch brennende chemische Stoffe gefärbt wird. Im Momente, wo das brennende Metall, z. B. Natrium, in die Flamme gebracht wird, blitzt im Spectrum eine helle Linie auf, bei unserem Beispiele eine hellgelbe; sieht der Farbenblinde diese plötzliche Linie nicht gelb, so ist er gelbblind; verbrennt man etwas Kalium und Strontium in der betreffenden Flamme und sieht der Beschauer die verschiedenen plötzlich auftretenden rothen Linien nicht, so ist er rothblind, und ist auf diese Weise das sicherste Erkennungsmittel für dessen Farbenblindheit gegeben.

In jüngster Zeit hat der bekannte Augenarzt Dr. J. Stilling in Kassel eine vorzügliche Methode,[WS 1] die Farbenblindheit rasch zu erkennen, angegeben. Stellt man zwischen eine brennende Lampe und eine weiße Fläche eine rothe Glasplatte, so erscheint der Schatten eines Stiftes, den man zwischen die Glasplatte und die Fläche hält, jedesmal in der Complementärfarbe des Roth, als grüner Schattenstrich, und umgekehrt durch eine grüne Glasscheibe als rother Schattenstrich, durch eine blaue Scheibe als gelber Schattenstrich, durch eine gelbe Scheibe als blauer Schattenstrich. Ist nun Jemand farbenblind, so erkennt er die entsprechende Farbe des Schattens nicht und sieht ihn einfach grau oder dunkel.

Die Farbenblindheit, jene eigenthümliche Anomalie unseres Auges, welche eine Curiosität für den Laien ist und dem Naturforscher ein hochwissenschaftliches Interesse darzubieten scheint, greift – man sollte es kaum glauben – recht tief in das praktische Leben ein. Bei sehr vielen Eisenbahnunfällen, von denen wir in neuerer Zeit so erschreckend viel lesen und hören, kommt es nicht selten vor, daß bei Zeugenvernehmungen in Bezug auf die Angaben der beobachteten farbigen Lichter die größten Widersprüche zu Tage treten. Leicht kommen dadurch ganz unbescholtene, brave Menschen in den Verdacht eines falschen Eides; wie leicht wandert unter solchen Umständen ein bedauernswerther Locomotivführer oder Weichensteller, der in Folge von Farbenblindheit die Farbe einer Drehscheibe verkannte, unschuldig in das Gefängniß! Und was war denn der Grund jenes Unglückes? Kein falscher Eid, keine Fahrlässigkeit, sondern die Farbenblindheit, eine unter den Menschen so sehr verbreitete und Jahrhunderte hindurch ungeahnte Abart des Sehvermögens. Als man vor mehreren Jahrzehnten anfing, von dieser Anomalie des Auges zu sprechen, hielt man die ganze Sache einfach für lächerlich, und viele Leute, welchen der Mangel des Farbensinnes nachgewiesen wurde, wollten gar nicht glauben, daß ihnen der Farbensinn abgehe. Das schwache Bewußtsein der Schattirungsdifferenzen der Lichteindrücke war für sie der Begriff „Farbe“. Und doch ist das Uebel sehr verbreitet.

In England kommt, so viel bis jetzt bekannt, die in Rede stehende Anomalie am häufigsten vor, indem unter achtzehn Menschen schon Einer damit behaftet ist. Nach Mittheilungen in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin haben verschiedene Eisenbahnärzte in Frankreich in jener Beziehung das Beamtenpersonal nur oberflächlich untersucht, und es fanden sich unter den Beamten acht Fälle von Farbenblindheit. Dr. Faure prüfte hierauf siebenhundertachtundzwanzig Eisenbahnbeamte im Alter von achtzehn bis sechszig Jahren sorgfältiger und fand zweiundvierzig an Farbenblindheit Leidende. Neun unter denselben konnten nur die rothe Farbe nicht unterscheiden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Metthode
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_066.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)