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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Menschen wirklich, oder am liebsten auch nur scheinbar, glücklich werden, und diese Wenigen sind dann dazu bestimmt, der ungeheuren Mehrheit Sand in die Augen zu streuen. Sie sind die eigentlichen Lockvögel, an deren goldglänzendem Gefieder sich die Menge vergafft, und – weiter hat es keinen Zweck. –

Für solche Lockvögel hat denn die gütige Mutter, wenn wir uns einmal auf den Standpunkt des citirten Philosophen stellen wollen, auch auf dem Felde der Kunst vorgesorgt. Es ist im Allgemeinen bekannt, daß auch da der überwiegenden Mehrzahl von gläubigen Jüngern und hoffenden Priesterinnen statt des ersehnten Lorbeers die Dornenkrone des Elends auf das Haupt gedrückt wird, aber die Lockvögel, diese Lockvögel mit ihrem strahlenden Gefieder und mit ihrem Sirenensang, sie singen und schläfern und lullen Dich ein, und ehe Du es Dich versiehst, bist Du in ihrem Zauberbanne und hoffst, es ihnen gleich thun zu können. Kein Jüngling lernt seinen Faust auswendig (damit pflegt bei uns Deutschen wenigstens die Geschichte anzufangen), ohne daß er im Schreine seines Herzens die stille Hoffnung trüge, daß aus ihm doch noch ein Dawison, ein Devrient oder doch ein Lewinsky werden könnte, und ebenso wahrscheinlich ist es, daß noch kein Mädchen die weltbedeutenden Bretter zum ersten Male betreten hat, ohne ganz im Stillen bei sich zu denken, daß es ihm doch vergönnt sein könnte, dereinst als hellblinkender Stern am Kunsthimmel zu blinken und es dereinst einer Patti im Singen oder einer Wolter im Tragiren gleich zu thun.

Einer Wolter! Ich habe auch sie zu den Lockvögeln gezählt. Die Direction des Wiener Burgtheaters wird mir gerne bestätigen, daß sie zu diesen gehört, wenn auch zunächst in anderem als in dem soeben angedeuteten Sinne. Es ist nichts Seltenes, daß sich schon um drei Uhr Nachmittags eine dichte Menge vor den Pforten des Burgtheaters drängt und stößt, um für die um sieben Uhr beginnende Vorstellung sich ein Plätzchen zu erkämpfen. Dieses durch Künstlerbegeisterung erzeugte Gedränge ist so stark und ferner auch so charakteristisch für die Wiener Bevölkerung, daß ein dramatischer Dichter sich veranlaßt gesehen hat, es zu einer sehr wirkungsvollen und gern gesehenen Bluette, „Der Einlaß vor dem Burgtheater“, zu verwerthen, und fragt man, welchen Namen dieses Gedränge zumeist zu danken sei, so wird der der Wolter jedenfalls nicht zuletzt genannt werden dürfen. Doch nicht ohne Kampf hat sich die Künstlerin den Ehrenplatz in der deutschen Theaterwelt der Gegenwart erobert, den sie jetzt mit sieggewohnter Sicherheit einnimmt; sie gehört nicht zu jenen Glückskindern, welchen gute Genien ihre schönsten Geschenke im Schlafe bringen; Schritt für Schritt hat sie sich emporkämpfen müssen, Schritt für Schritt durch Noth und Entbehrungen, durch gestörte Illusionen und zertrümmerte Hoffnungen hindurch, bis sie das Ziel wirklich erreichte, das auch ihr verführerisch vorgeschwebt haben mag, als sie zum ersten Male vom Lampenfieber geschüttelt wurde.

Wie bei so vielen ihrer Berufsgenossen und Genossinnen war auch bei ihr der erste Theaterbesuch entscheidend für ihre zukünftige Laufbahn. Nicht von einer Loge oder einem bequemen Fauteuil des Parterres oder der Galerie sah sie zum ersten Male der bunten Theaterwelt in’s Gesicht. Sie kauerte, vor innerer Aufregung zitternd, hinter einer Coulisse, nachdem sie den Garderobekorb einer Künstlerin[WS 1] hatte dürfen in’s Theater tragen helfen. Da ward der erste Funke in ihre jugendliche Brust geworfen, und der Brand, der durch diesen entfacht wurde, war nicht mehr zu unterdrücken, weder durch Güte noch durch Strenge. Ein halbes Kind noch verließ Charlotte Wolter Köln, ihre Vaterstadt, und kam nach Wien, um sich hier der Kunst zu widmen. Der glückliche Zufall, der so oft im rechten Augenblicke den von Gott und der Welt verlassenen Menschenkindern zulächelt, ließ sie in Frau Gottdank, einer früheren Hofschauspielerin, eine mütterliche Freundin und eine verständige Lehrerin finden. Frau Gottdank war die erste, welche in dem leidenschaftlichen Kinde das große Talent entdeckte, und in ihrer großen Freude über den Fund verlangte sie nicht nur nichts für ihre Lectionen (es hätte ihr auch freilich wenig geholfen, da zu verlangen, wo nichts war), sondern setzte sogar in aufopferndster Weise den Unterricht fort, als sie krank und siech im Bette lag.

Das erste Engagement fand Charlotte Wolter an dem deutschen Theater zu Pest, woselbst es ihr vielleicht hätte ganz wohl ergehen können, wenn der Director nicht sehr bald darauf bankerott geworden wäre. Nun hieß es für die junge Kunstnovize die Misère der Schmieren kennen zu lernen. Sie kam mit einer Truppe nach Stuhlweißenburg, wo anfänglich ziemlich fleißig gemimt wurde, bis der Director in die für alle Parteien sehr unangenehme Lage gerieth, die Gagen nicht mehr bezahlen zu können. Dennoch sollte die Gesellschaft weiter spielen, da ja Abonnementsgelder im Vorhinein eincassirt worden waren. Unsere Künstlerin aber hatte, um überhaupt leben zu können, das Wenige, was sie an Theatergarderobe besaß, versetzen müssen, und als sie sich daher weigerte, aufzutreten, sollte sie erfahren, daß mit einem Stuhlrichter von Stuhlweißenburg nicht zu scherzen sei. Unmittelbar vor der Vorstellung erschien nämlich ein martialischer Pandur mit aufgepflanztem Bajonnet in ihrem Stübchen und escortirte sie ohne viel Federlesens in’s Theater, wo sie ihrer Schuldigkeit gemäß das Publicum zu unterhalten hatte. Fräulein Wolter spielte, allein am nächsten Morgen entschwebte sie von der Bildfläche Stuhlweißenburgs, und ward nicht mehr gesehen. Sie kam nach Wien und war so glücklich, am Karl-Theater sofort Beschäftigung zu finden, nachdem Franz Treumann und das Ehepaar Nestroy, welchen sie die Deborah zur Probe vorspielte, gefunden hatten, daß Talent, allerdings ein sehr bildungsbedürftiges Talent, vorhanden sei. Und wie wurde dieses Talent gepflegt? Man ließ sie zugleich mit Nestroy, Scholz und Treumann, diesem ausgesuchten Komikertrifolium, auftreten, man beschäftigte sie in Stücken, wie „Tanzmeister Paucerl“, „Einen Jux will er sich machen“, „Vierzig Mädchen in Uniform“ etc. Kurz, es war, als hätte man um jeden Preis einen königlichen Aar abrichten wollen, daß er trillire wie ein Zeiserl oder höchstens wie ein Canarienvogel. Man kann sich denken, daß eine Künstlerin mit einer dämonischen, gewaltigen Leidenschaft in der Brust sich recht traurig ausgenommen haben mag bei diesen Späßen. Aber es sollte noch lange nicht anders werden.

Emil Devrient kam nach Wien und gastirte im Karl-Theater; man gab endlich Tragödien, die Wolter aber durfte Stubenmädchen spielen. Devrient bemerkte nichts von ihrem Talente, dagegen bemerkte er mit Staunen ihre wahrhaft classische Schönheit. Doch man brauchte kein Devrient zu sein, um den Adel dieser Züge, um die vornehme Classicität[WS 2] dieses Profils zu bemerken, zu bewundern, und jedenfalls war das nur ein schwacher Trost für die Künstlerin, deren Loos ungefähr dem des Pegasus im Joche glich. Es kam Hendrichs nach Wien, und wieder gelangten Tragödien auf das Repertoire des Karl-Theaters; man gab „Macbeth“, und die Wolter durfte eine der Hexen spielen. Und doch sollte dieses Mal ein freundlicher Strahl in ihre dunkle Existenz fallen. Hendrichs hatte ihre Schönheit nicht bemerkt, denn als Hexe hatte sie eine gräuliche Larve vor dem Gesichte, aber er wurde während der Vorstellung überrascht von dem Tone ihrer Stimme und ihrer Art zu sprechen. Diese Hexe hatte wirklich den Teufel im Leibe, wie Hendrichs meinte, und ohne weitere Besinnung prognosticirte er der kleinen Hexe eine große tragische Zukunft. Vor der Hand freilich mußte sie noch immer Stubenkätzchen und Nähmamsellchen fort spielen. Endlich erbarmte sich ihrer Cajetan Cerri, der bekannte liebenswürdige lyrische Dichter. Er ging zu Laube und führte diesen in’s Theater, und nun trat endlich die langersehnte Wendung in dem Schicksale der Wolter ein. Laube’s sicherer Blick erkennt in ihr, trotz der sehr unglücklichen Rolle, die sie gerade zu spielen hat, die geborene tragische Heldin. Er räth ihr, sich schleunigst vom Karl-Theater loszumachen, in die Welt hinauszugehen, sich im tragischen Fache auszubilden und dann beim Burgtheater anzuklopfen. Sie gastirt in Brünn. Laube schickt ihr Lewinsky nach, damit er sehe, wie sie sich mache, und Lewinsky kommt mit der inhaltsschweren Meldung zurück, daß sie sich wirklich mache. Laube schmunzelt und meint, daß man sie nur ausreifen lassen solle.

Charlotte Wolter macht inzwischen ihren Weg weiter; sie nimmt ein Engagement am Victoria-Theater an. Am ersten Tage muß das angekündigte Stück abgesagt werden, da der erste Liebhaber feierlich erklärt, mit „dieser Person“ nicht spielen zu wollen – das sei die personificirte Talentlosigkeit. Am nächsten Tage fällt der erste Liebhaber durch, während „diese Person“ sich eines durchschlagenden Erfolges zu erfreuen hat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Künsterin
  2. Vorlage: Classiicität
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_098.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)