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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Bühnen-Erinnerungen.


4. In den „böhmischen Wäldern“.


In einem schönen Sommer durchwanderte ich das an landschaftlichen Schönheiten reiche Nordböhmen. Die von Theodor Körner besungene Burgruine Schreckenstein war an einem heißen Nachmittage mein nächstes Ziel. Die Ruine, dem fürstlichen Hause Lobkowitz gehörig und von ihm erhalten, lohnt reichlich die Mühen einer Besteigung. Auf einer Felsenmasse gelegen, die keck in die Elbe vorspringt, bietet sie dem Wanderer einen herrlichen Tiefblick zum schönen Strom hinab.

Beim Durchblättern des Fremdenbuches fielen meine Augen auf eine höchst fragwürdige Gestalt, welche an einem etwas entfernten Tische Platz genommen hatte. Der Mann, der etwas Affenartiges hatte, begrüßte mich mit komisch-grinsender Freundlichkeit.

„Servus!“ –

Ich hatte eigentlich die Absicht, dem Grüßenden den Rücken zuzudrehen. Aber ein forschender Blick, den ich über ihn gleiten ließ, hielt mich davon ab. Ich war immer ein Freund von seltenen „Charaktermasken“. Das war eine.

„Servus!“ wiederholte der Mann nochmals freundlich grüßend und nickend. Ich antwortete ihm kühl:

„Guten Tag!“

„G’fallt’s Ihnen da heroben?“

„O ja!“

Meine neue Bekanntschaft zog ein nichts weniger als sauberes Papier aus der Tasche eines wenigstens dreißig Jahre alten schwarzen Frackes und entfaltete den Inhalt, Brod und Käse, auf seinem Schooße, der durch das enge Zusammendrängen von zwei mageren Beinen gebildet wurde. Diese Beine steckten in schottisch carrirten Pantalons. Ich wähle mit Absicht dieses Fremdwort, denn es bezeichnet einen schon längst aus der Mode gekommenen Beinkleiderschnitt. Nachdem der Mann, mir fortwährend freundlich zugrinsend, seinen Tisch arrangirt hatte, zog er eine sonderbare Mütze mit auffallend breitem Schirm vom Haupte und lüftete ein wenig das alte, schwarze Tuch, welches er um den Hals trug.

„Guten Appetit!“ rief ich ihm zu.

„Ich dank’.“ – Stöhnend fügte der Mann hinzu: „Wann ma jetzt a Pilsener hätt’, bei derer Hitz’!“

Ich rief den Wirth und bestellte „zwei Bier“.

Der schwarze Frack und die schottisch Carrirten erhoben sich und das Gorilla-Antlitz ihres Trägers verzog sich unsagbar komisch. Das Original fuhr mit seiner breiten, braunen, knochigen Hand durch den schwarzgrauen Haarwald, welcher sich bis in den Nacken erstreckte, strich sich dann wohlgefällig das blauschwarze, unrasirte Gesicht, in welchem eine platte Nase saß, und sprach:

„O, i bitt’ Ihnen.“

Dann begann der Kauz Brod und Käse zu vertilgen. Der Wirth brachte das Bier.

„Prosit!“

„G’seg’n’s God!“

Ich beneidete den Mann um die Kehle. Als ob sich das von selbst verstünde, rief er den Castellan zurück und übergab ihm das geleerte Glas zu neuer Füllung, indem er mit freundlichem Gesichterschneiden auf mich zeigte.

„Euer Gnoden san ka Oestreicher?“

„Nein!“

„Aber a Deitscher san Euer Gnoden?“

„Ja!“

„Hm, hm!“ nickte er und nahm einen manierlichen Schluck. Nach einer kleinen Pause, die das Geräusch seiner langsam zermalmenden Kinnladen ausfüllte, fragte er plötzlich: „Euer Gnoden verzeih’n – was san denn Euer Gnoden?“

„Reisender.“

„Hm! – Sunst nix?“ – Die Sache fing an mir Spaß zu machen.

„Sonst? Nicht viel! Es ist zwar keine Schande, aber schön ist’s auch nicht von mir.“

„Wie meinen Euer Gnoden?“

„Ich bin Schauspieler.“

Mit affenartiger Geschwindigkeit schoß das Original in die Höhe und saß dann plötzlich dicht neben mir auf der Bank. Der komische Kauz streckte mir seine Hand entgegen, und als ich diese, wegen der daran haftenden Mahlzeitreste, mißtrauisch beobachtete, rief er freudig:

„Schlagen’s ein! Ich hob’ mir gleich so was denkt. Ich bin der Theaterdirector Pospischil.

Alle Achtung! – Ich hatte schon viel gehört von den böhmischen „Schmierendirectoren“ und von dem Treiben der böhmischen „Schmieren“ überhaupt. Auf diese Wirklichkeit war ich indessen doch nicht gefaßt. Diese Wirklichkeit verwirrte mir die Sinne, und mit befangener Verwirrung schlug ich ein in die dargebotene Rechte des Mannes und sprach halblaut und mechanisch:

„Sehr angenehm, Herr Director!“

Das freudestrahlende Ungethüm hielt meine Hand fest zwischen seinen breiten, braunen „Bratzen“, wie man dort zu Lande sagt.

„Ah, schau’n S’ – dös g’freut mich. Schau, schau! Ein Herr Collega von der Kunst! Hab’ mir’s glei’ denkt. Unserans kennt sich aus als alter Director. Hab’s glei’ g’wittert – die Schminken, die Schminken!“

Es war so viel Herzlichkeit in der naiven Art des böhmischen Schmierendirectors. Mein Unwille gab sich ihr gefangen. Ich befreite meine Hand nach einem freundschaftlichen Drucke aus der gefahrdrohenden Umklammerung des Naturmenschen. Saß doch da vor mir eine der Gestalten der Ur-Hygieine, welche die „Fliegenden Blätter“ mit so köstlichem Humor gezeichnet haben. Freundlich fragte ich, nachdem ich noch weiteres Bier bestellt hatte:

„Wo spielen Sie denn gegenwärtig, Herr Director?“

„Gar net weit von hier. In Schönprießen bei Aussig. Ich sag’ Ihnen – ein feiner Ort!“

„Haben Sie heute Vorstellung?“

Wissen S’, Herr Collega, bei derer Hitz’ und dem schönen Wetter spüll’n ma nur mehr drei Mal in der Wochen. Morg’n wird g’spüllt. Morg’n san ‚Die Raiber’.“

„‚Die Räuber‘?!“

„Ja. Die Schillerischen. Kummen S’ doch aussi zu uns, Herr Collega, morg’n Abend! Ich sag’ Ihnen, es wird beim alten Pospischil a guete Kumedi g’spüllt. Und g’rad’ jetzt mit mei’m Gast!“

„Wer gastirt denn bei Ihnen?“

Herr Director Pospischil zog ein merkwürdiges Gesicht und wiegte nachdenklich den Riesenschädel.

„Ja, schau’n S’, Herr Collega, wer mei’ Gast eigentlich is, weiß ich so genau selber net. Er is vor fünf Täg’ zug’reist und hat bei mir ang’fragt, ob ich ihn net spüll’n lassen wollt’. Unter uns – er schaut eigentlich nicht aus wie a ‚Gast‘; er hält halt nix auf’s Aeußere; er is sehr desolat.“

Daraufhin mußte ich mir das Costüm Pospischil’s doch noch einmal genauer ansehen. Dieser begriff instinctiv, was ich mit meinem fragenden Blicke sagen wollte, und sprach mit einer Art Verschämtheit:

„O, Herr Collega, mich dürfen’s so genau nit darauf anschau’n. Ich bin an alter Kerl, an die Sechszig, und seit dreißig Jahrl’n Director. Ich bin a gueter Kerl, und wann meine Leut’ schlechte Zeiten haben, siecht ma’s z’erst an mir. Und dann hab’ ich auf meine alten Täg’ eine Dummheit begang’n, daß ich alle Stund’ a paar Mal mei paladatschetes G’fries mit Watschen regalir’n möcht’.“

„So?“

„J–a!“ seufzte Pospischil in langgezogenem Tone. „Schaun’s, Herr Collega, so an alter Dalk, wie ich war. Kummt da vor zwei Jahr’n a erschte Liebhaberin zu mir, das heißt – eigentlich war’s damals nur a Kindermädchen aus Dresden, was die Herrschaft in Karlsbad davongejagt hatte – also die kam zu mir. Ich sag’ Ihnen, Herr Collega, eine famose Schauspielerin! Was soll ich lang’ reden; ich wollt’ sie mir festmachen und hab’s geheirath’t.“

„Ah!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_117.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)