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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Ein französischer Caspar Hauser.


Von E. Laur.


Die bekannte Frage: wie viel Steine bilden einen Haufen? lautet in einer französischen Umwandlung: wie viel Thoren gehören dazu, um ein „Publicum“ auszumachen? Und weil das Publicum zum allergrößten Theile aus einer Menge besteht, welche von Unparteilichkeit nichts weiß, nicht durch Gründe sich bestimmen läßt, so sprechen wir mit Recht nur selten von dem öffentlichen Urtheil, gewöhnlich aber von der öffentlichen Meinung und haben vor derselben, wenngleich sie als sechste Großmacht auf Berücksichtigung entschieden Anspruch machen kann, doch im Grunde genommen wenig Achtung. Und dies ist natürlich, denn es fehlt der öffentlichen Meinung das wichtigste charakteristische Merkmal einer Großmacht: die Unabhängigkeit. Sie ist abhängig von der Mode, der herrschenden Stimmung, dem ersten Eindrucke. Napoleon der Erste definirte sie, als er bereits fern von Paris Zeit hatte, darüber nachzudenken, am 18. November 1815 im Memorial also: „Die öffentliche Meinung ist eine unsichtbare, geheimnißvolle Macht, welcher nichts zu widerstehen vermag; nichts ist beweglicher, unbestimmter, stärker, launischer.“ Wir können, glaube ich, hinzusetzen: nichts ist so schwer zu leiten und so leicht irre zu führen.

In den jüngsten Monaten spukte wieder einmal die Caspar Hauser-Geschichte. Mit Bezug auf diesen räthselhaften Findling hatte sich mit Hülfe der öffentlichen Meinung eine Legende gebildet, wie dergleichen Sagen immer entstehen.

Die Geschichte von dem Nürnberger Findling war nichts Anderes, als die neue Titelausgabe eines Vorganges, welcher vor hundert Jahren die öffentliche Meinung und die Gerichte beschäftigt hat. Auch damals ist für die Zugehörigkeit des Knaben zu einer vornehmen Familie ein Mann in die Schranken getreten, welcher sonst nicht nur über jeden Verdacht der Unehrenhaftigkeit erhaben ist, sondern allezeit als wahrer Menschenfreund, ja Wohlthäter der Menschheit wird gepriesen werden: es ist der Abbé de L’Epée, geboren in demselben Jahre wie Jean-Jacques Rousseau, gestorben in dem Jahre der Eroberung der Bastille, er, welcher den taubstumm Geborenen lehrte, das Auge als Ohr und die Hand als Zunge zu gebrauchen.

Am 1. August 1773, Abends zehn Uhr, wird zu Cuvilly in der Picardie auf der Landstraße ein taubstummer Knabe gefunden. Er ist bedeckt mit schmutzigen Lumpen, völlig abgemattet und ausgehungert. Nach dem einen Berichte wird er von einer Frau Poulin, nach dem andern von dem Steuerbeamten Leroux aufgenommen und beherbergt, auch sorgfältig gepflegt. Von dieser Thatsache unterrichtet, giebt der Polizeigenerallieutenant von Sartines in Paris den Befehl, den Knaben in der öffentlichen Anstalt zu Bicêtre unterzubringen. Dies geschieht am 2. September 1773. Im Juni des folgenden Jahres erkrankt das Kind und wird nach dem Hôtel Dieu in Paris gebracht. Hier ist es bereits seit acht Monaten, als eines Tages der Abbé de l’Epée bei einem zufälligen Besuche des Hospitals auf den Knaben aufmerksam gemacht wird, ohne hierdurch zu besonderem Antheil an dem Geschick des Kleinen bewogen zu werden. Er hatte mit den in seiner Obhut und Pflege befindlichen beklagenswerthen Kindern vollauf zu thun, sodaß seine Einkünfte kaum ausreichten, die ihm anvertrauten taubstummen Zöglinge zu erhalten. Nach einiger Zeit führt den Abbé ein Geschäft wieder in das Hôtel Dieu, und diesmal bittet ihn eine Nonne, sich des armen Findlings anzunehmen, dessen Loos um so mehr Theilnahme verdiene, als er, nach verschiedenen Aeußerlichkeiten zu schließen, offenbar nicht den unteren Classen des Volkes angehöre.

Hierdurch wird das Interesse des berühmten Lehrers der Taubstummen rege. Der Knabe wird herbeigeholt, und nun – so berichtet der Abbé selbst – giebt er auf Befragen durch Zeichen zu verstehen, daß er einer angesehenen und reichen Familie angehöre, daß sein Vater gehinkt habe und gestorben sei, daß seine Mutter als Wittwe mit vier Kindern hinterblieben, nämlich außer ihm mit drei Töchtern, von denen zwei älter, eine jünger als er selbst sei; die Mutter habe Bänder und schöne Kleider, auch eine Uhr getragen, in einem großen Hause gewohnt und mehrere Diener gehabt, auch er sei stets bedient worden; an das Haus habe ein großer Garten gestoßen, welcher unter eines Gärtners Obhut gewesen, viel Früchte gebracht habe und während des Winters sorgfältig geschützt worden sei. Einmal sei er, der Knabe, mit einem Reiter auf ein Pferd gesetzt worden und habe eine Art Schleier vor das Gesicht bekommen, dann habe man ihn weit weggeführt und schließlich verlassen. Doch wußte der Knabe nicht anzugeben, aus welcher Himmelsrichtung er gekommen, auch nicht ob er Franzose oder im Auslande geboren sei.

Der Abbé berichtet nicht, in welcher Weise ihm gelungen, mit dem Kinde sich zu verständigen. Er selbst hatte zwar bereits seit 1755 eine Unterrichtsanstalt für Taubstumme gegründet und, soweit seine Privatmittel reichten, auch unterhalten. Unter den von ihm erzogenen Schützlingen war der Findling nicht gewesen. Die erste Schrift über den Unterricht der Taubstummen war erst 1774 erschienen. Mithin konnte der seit September 1773 im Hôtel Dieu befindliche Knabe auch nicht von Anderen in der Bildung so weit gebracht worden sein, um über all das oben Mitgetheilte mit einem Fremden sich zu verständigen. Trotzdem stellt der Abbé de l’Epée aus den angeblichen Eröffnungen des Knaben einen Bericht zusammen und überreicht diesen dem Kriegsminister Graf von Saint-Germain. Bei dem Ansehen, welches der ausgezeichnete Menschenfreund genoß, war es nur natürlich, daß sofort sämmtliche Gensd’armen des Königreichs (welche bis zum Anfange der Revolution den Namen la maré-chaussée führten) unter Zusicherung reicher Prämien beauftragt wurden, Nachforschungen nach dem Ursprunge des Kindes anzustellen. Die Zeitungen, so viel es deren gab, und die Erzählungen der Gensd’armen trugen zur Verbreitung jener Thatsachen das Mögliche bei, aber Alles blieb ohne Erfolg.

Da erschien im März 1776, also nach Verlauf von etwa zwei Jahren, im Hôtel Dieu ein Unbekannter, welcher den noch immer hier verpflegten Taubstummen zu sehen wünschte. Man willfahrte seiner Bitte. Er sah den Knaben verächtlich an, so verächtlich, daß dieser in Thränen ausbrach, und sagte: „Der ist es nicht.“ Als ihm erwidert wurde, dies sei allerdings der taubstumme Findling, antwortete der Fremde: „Ich weiß wohl, was ich sage,“ und entfernte sich ohne Weiteres.

Zwei Stunden darauf ließ ein junges Mädchen, welches wegen einer Wunde seit mehreren Monaten im Hospital behandelt wurde, den Knaben sich zeigen und versicherte sogleich, sie kenne ihn und seine Familie ganz genau; er heiße Louis Le Duc und sei der Sohn von Louis Le Duc, welcher in Saint-Michel (Lothringen) eine Waschanstalt habe. Sie betheuerte unter hohen Schwüren die Richtigkeit des Gesagten und schlug vor, an den Pfarrer, den Vicar und den Polizeibeamten in Saint-Michel zu schreiben; sie würden gewiß ihre Angabe bestätigen. Eine hierauf bezügliche Anfrage des Abbé de l’Epée wurde übereinstimmend dahin beantwortet, man könne sich auf das Mädchen verlassen, sie müsse den Knaben und alle Verwandten desselben genau kennen, da sie Jahre lang dem Hause Le Duc’s gegenüber gewohnt habe und oft dort aus- und eingegangen sei.

Noch bevor die Rückäußerung aus Saint-Michel eingetroffen war, hatte de l’Epée den Knaben aus dem Hôtel-Dieu in seine Privatanstalt übernommen, weil er ein Attentat auf denselben befürchtete. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß der wirkliche Louis Le Duc, geboren am 11. Februar 1764, im März 1774 in das Pariser Hôtel-Dieu gekommen, noch an demselben Tage nach dem Hospital la Pitié übergeführt, am 28. März desselben Jahres nach Bicêtre gebracht worden und hier am 19. Januar 1775 gestorben sei. Sonach konnte der jetzt noch Lebende mit jenem Lothringer Kinde nicht identisch sein. – Am 5. Juni 1776 erhielt der Abbé de l’Epée ein Schreiben von Madame de Hauteserre, welche berichtete, daß sie alljährlich acht Monate in Toulouse zubringe. Anfangs 1773 habe sie bei der Gräfin de Sollar (oder Solar) eine Wohnung gemiethet, unter deren Fenstern ein ausgedehnter Garten liege. Frau de Sollar habe damals eine Tochter von vierzehn Jahren und einen taubstummen Sohn von etwa zwölf bis dreizehn Jahren gehabt. „Dieser,“ so heißt es in dem Briefe weiter, „hatte blonde

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_133.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)