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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

in „das Auszugsstübchen“, das man „der Großmama“ eingeräumt. Nicht einmal Flora, das Kind ihrer eigenen Tochter, hätte sie an dieser Stelle sehen mögen, geschweige denn die Enkelin des Schloßmüllers. Die Frau Präsidentin sprach mit einem Mal sehr interessirt von Käthe’s Heim in Dresden; sie zeigte sich so besorgt, daß das wundervolle musikalische Talent vier Wochen lang brach liegen müsse, und ging mit der Idee um, das junge Mädchen in höchsteigener Person nach Dresden zurückzubringen.

Käthe ließ alle diese ausgesuchten Höflichkeiten schweigend über sich ergehen. Sie wollte abwarten, ob sich Henriette nicht doch durch Doctor Bruck bestimmen ließe, die Schwester zu begleiten. Bis jetzt hatte er noch keinen Versuch gemacht, wahrscheinlich weil er den Plan an der Reizbarkeit der Kranken nicht scheitern sehen mochte, und aufgeregt und gereizt war sie augenblicklich in hohem Grade. Er kam jeden Morgen um die bestimmte Stunde. Die Wohnzimmer der beiden Schwestern stießen an einander, und die Thür stand stets offen. Käthe hörte dann seine beschwichtigende Stimme, sein sanftes Zureden; er konnte aber auch so herzlich auflachen, daß die Kranke unwillkürlich einstimmte. Für Käthe’s Ohr hatte dieses metallreiche, frohmüthige und doch so angenehm beherrschte Lachen einen eigenthümlichen Reiz – es zeugte so unwiderleglich von der unangetasteten Jugendfrische der Seele; es bewies ihr, daß er seiner Sache, seiner Zukunft gewiß war, daß er sich auch innerlich absolut nicht den tausend Widerwärtigkeiten und Kränkungen beugte, die auf ihn einstürmten.

Sie selbst sprach ihn nicht. Um diese Zeit meist an ihrem Arbeitstische sitzend, konnte sie ihn drüben auf- und abwandeln sehen, aber so unzertrennlich auch sonst die beiden Schwestern waren, kurz vor der Besuchsstunde des Arztes zog sich Henriette stets in ihr Zimmer zurück, und Käthe hütete sich, mit einem hinübergerufenen Worte oder auch nur einem verständnißvollen Blicke Theilnahme an dem Gespräche zu verrathen, die von der Kranken offenbar nicht gewünscht wurde. … Die Tante Diaconus aber sprach sie sehr oft, und zwar in der Schloßmühle. Die alte Frau sah täglich nach Suse, seit sie so nahe wohnte; sie brachte ihr Suppen und eingemachte Früchte und saß stundenlang bei der Haushälterin, die sich durchaus nicht darein fand und sehr unglücklich war, daß es mit dem Spinnen, Stricken und Waschen „immer noch nicht gehen wollte“.

Das waren trauliche Dämmerstündchen in der Schloßmühlenstube. Die Tante erzählte aus ihrer Jugend, aus der Zeit, wo sie noch „die Frau Seelsorgerin“ im Dorfe gewesen war; sie beschrieb den schweren, thränenreichen Moment, wo sie den Doctor als achtjährigen Knaben aus dem Elternhause weggeholt hatte, weil ihm Vater und Mutter in Zeit von wenigen Tagen gestorben waren, und mochte sie auch mit kleinen Erlebnissen aus ihrer sonnigen Mädchenzeit oder aus ihrem glücklichen Eheleben beginnen, stets und immer gipfelten ihre Schilderungen in dem Zusammensein mit dem Doctor, der so recht der Sonnenschein ihres Lebens geworden war, wie sie versicherte.

Beim Nachhausegehen begleitete Käthe die alte Frau den rauschenden Fluß entlang bis an die Brücke. Die kleine Hand der Tante lag dann auf dem Arme des jungen Mädchens, und sie wandelten dahin, wie zusammengehörig, als müßten sie auch mit einander über die Brücke schreiten und hineingehen in „des Doctors Haus“, das so still und friedlich, so weltverloren und vom Dämmerlichte eingesponnen, hinter dem Ufergebüsche lag. Die Abende waren noch sehr frisch, und von dem schwarzen, starrenden Walde her zogen dünne Nebelschleier und feuchteten Haar und Kleider – da schlüpft man gern unter das gastliche Dach, auf welchem der Schornstein raucht. Gewöhnlich brannte schon die grünverschleierte Lampe in der Eckstube; durch das eine unverhüllte Fenster fiel ihr Licht, breit und hell, schräg über die Brücke. Die heimkommende alte Frau konnte nicht fehlgehen, wenn es auch schon tief dunkelte. Dann ging sie hinein; der letzte Fensterladen wurde geschlossen, und dort in der behaglichen Ofenecke – Käthe konnte sie mit ihren scharfen Augen vollkommen übersehen –, wo der grüne, verblichene Fußteppich lag und hinter dem runden Tische ein hochlehniger, gepolsterter Armstuhl stand, arrangirte sie geräuschlos den Abendtisch und wartete strickend, bis der Doctor sein Pensum beendet hatte. …

Das hatte sie dem jungen Mädchen auf der Abendwanderung wiederholt geschildert, und gar so gern blieb sie dann einen Augenblick auf der Brücke stehen, überblickte ihr trautes Heim und deutete lächelnd nach dem Manne, der arbeitend seinen dunkellockigen Kopf über den Schreibtisch beugte. Aber er sprang dann gewöhnlich auf und öffnete das Fenster, denn der neu angeschaffte Kettenhund fuhr mit wüthendem Gebelle auf die Herankommenden los. „Bist Du es, Tante?“ rief der Doctor herüber. Bei diesen Lauten floh Käthe aus dem Bereiche des Lampenscheines. Mit einem flüchtigen „Gute Nacht!“ stürmte sie die einsame Allee hinauf; sie kam sich vor wie ausgestoßen, und so mußte auch ihm später zu Muthe sein – falls er Flora wirklich noch an seine Seite zu zwingen vermochte –, wenn er aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung zurückkehrte und von seinem Weibe, der Seele des Hauses, mit kühlem Gruße am Schreibtische, oder geschmückt zu einer Abendgesellschaft, im flüchtigen Vorübergehen empfangen wurde. – –

Es war am siebenten Tage nach der Abreise des Commerzienrathes, als die Nachricht aus Berlin eintraf, daß die Spinnerei verkauft sei. Die Präsidentin war von dieser Neuigkeit so angenehm berührt, daß sie, noch im Cachemirschlafrocke, mit dem Briefe in der Hand, die Treppe zur Beletage hinaufstieg und in Henriettens Zimmer trat, wo sich auch Flora kurz vorher eingefunden hatte.

Die alte Dame setzte sich in einen Lehnstuhl und erzählte. „Gott sei Dank, daß Moritz ein Ende macht!“ sagte sie heiter gestimmt. „Er hat ein brillantes Geschäft abgeschlossen; das Etablissement wird ihm so horrend bezahlt, daß er selbst ganz überrascht ist.“ Sie legte die feinen Hände gefaltet auf den Tisch und sah unendlich zufrieden aus. „Er wird nun ganz und gar mit seiner kaufmännischen Vergangenheit brechen. Damit fallen auch die fatalen Rücksichten für die sogenannten Geschäftsfreunde weg; denkt nur zurück, wie oft wir ungehobelte Gäste beim Diner gehabt haben, die besser am Domestikentische gesessen hätten! Mein Gott, waren das peinliche, verlegene Momente! Ach ja, man hat sich so manchmal stillschweigend überwinden müssen.“

Käthe stand währenddem am Fenster. Von dieser Stelle aus konnte man das große Fabrikgebäude inmitten seiner unvollendeten, neuen Anlagen liegen sehen. Der weite Kiesplatz vor dem Hause wimmelte von Menschen, von Männern, Weibern, Kindern, die aufgeregt durcheinanderfuhren und gesticulirten. Die Maschinen standen verlassen; es mochte kein einziger Arbeiter in den Sälen verblieben sein.

Das junge Mädchen am Fenster deutete betroffen hinüber.

„Weiß schon,“ sagte die Präsidentin lächelnd; sie erhob sich und trat an das Fenster. „Der Kutscher hat mir eben im Corridore Meldung gemacht, es solle sehr laut da drüben zugehen. Man ist außer sich, daß die Spinnerei an eine Actiengesellschaft verkauft worden ist, deren Directorium hauptsächlich aus Juden zusammengesetzt sein soll. Ja, ja, so geht’s, die guten Leute ernten nun, was sie gesäet haben. Moritz hätte auf keinen Fall so überraschend schnell tabula rasa gemacht; sein Herz hing ja in für mich unbegreiflicher Weise an der Spinnerei, aber die letzten Vorgänge haben ihm den Besitz gründlich verleidet, er will mit der Sache nichts mehr zu thun haben.“

„Das sieht genau aus, als habe er sich gefürchtet, der gute Moritz,“ meinte Flora mit verächtlich sich wölbenden Lippen. „Ich für meinen Theil hätte gerade in diesem Momente die Fabrik nicht für Millionen hingegeben; erst mußten die Kläffer sich überzeugen, daß ihr Lärmen umsonst gewesen sei, daß man ihre Schreckschüsse verlache. Der Grimm schnürt mir den Hals zu, wenn ich mir denke, es könnte nun heißen, die Drohbriefe an mich hätten uns eingeschüchtert.“

„Sei ruhig, Flora! Das glaubt Niemand von Dir; man sieht Dir die Soldatencourage und Zuversicht auf hundert Schritte an,“ spottete Henriette.

Die schöne Schwester rauschte schweigend nach der Thür; sie ignorirte ja derartige Bemerkungen der Kranken stets mit einem kalten Lächeln, und auch die Großmama erhob sich, um Toilette zum Diner zu machen.

„Bruck hat Dir für heute einen kleinen Spaziergang erlaubt, Henriette?“ fragte die alte Dame, sich an der Thür noch einmal zurückwendend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_142.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)