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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

die Umstehenden aus, aber das große, starke Weib ergriff die feinbekleidete Hand, als sei sie zu einem freundschaftlichen Druck geboten, und schüttelte sie derb, mit gutgespielter Treuherzigkeit; dabei lachte sie aus vollem Halse, und die Anderen stimmten johlend ein. „Fräulein, Sie kriegen ja Courage, wie ein Gensd’arm – wohl, weil dort drüben“ – sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter zurück – „ein Hund gebellt hat? Das ist dem Kreiser Sonnemann sein Dachsel; ich kenn’ ihn an der Stimme, und der alte Sonnemann ist stocktaub, und sein Dachsel geht nicht von ihm weg. Die gehen miteinander nach Oberndorf in die Schenke, wie jeden Nachmittag. Hierher kommen sie nicht – da seien Sie ganz ruhig! Und es geht Sie wirklich nichts an, Sie schönes Frauenzimmer, Sie, daß die Spinnerei verkauft worden ist? Wer’s glaubt! Man braucht Sie nur anzusehen, da weiß ein Jeder gleich, wo Barthel Most holt. Sie und die alte Madame regieren und commandiren, und der Commerzienrath hat blos zu gehorchen, und weil er nun reich genug ist, da sollen die gemeinen Leute, die ihm das Geld verdient haben, abgeschüttelt werden wie Ungeziefer. Na, ändern können wir’s freilich nicht, aber bedanken wollen wir uns doch bei Ihnen, Fräulein.“

Sie rückte näher, und der funkelnde Blick aus ihren kleinen, schiefen Augen hatte etwas katzenartig Grausames.

Flora schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. „Gott im Himmel, sie wollen uns ermorden,“ stöhnte sie tonlos mit bebenden Lippen.

Der ganze Chor lachte.

„Denken Sie nicht daran, Fräulein!“ sagte die Frau. „So dumm sind wir nicht. Da geht’s uns ja selbst,“ sie strich sich bezeichnend mit der Hand unter dem Kinne weg, „an den Kragen; was haben wir davon? Nur einen kleinen Denkzettel sollen Sie haben.“

Flora griff plötzlich, wie infolge einer plötzlichen Eingebung, in die Tasche ihres Kleides, öffnete ihr Portemonnaie und schüttete den ganzen Inhalt, Gold und Silber, auf die Erde. Sofort erweiterte sich der Kreis, und die Vordersten, meist Knaben, waren im Begriffe, sich über das Geld herzustürzen. „Untersteht Euch!“ schrie die Große und stellte sich mit ausgestreckten Armen zurückdrängend vor sie hin, daß sie wie eingekeilt standen. „Dazu ist’s nachher auch noch Zeit. Nachher, Fräulein,“ wandte sie sich bedachtsam und ironisch höflich an die schöne Dame, „erst den Denkzettel!“

„Hüten Sie sich, uns zu berühren!“ sagte Käthe. Sie behielt vollkommen ihre Fassung, während beide Schwestern dem Umsinken nahe waren.

„Ach Sie! Was mischen Sie sich denn da hinein? – Vor was soll ich mich denn hüten? Ein paar Wochen brummen,“ sie machte eine wegwerfende Bewegung, „das läßt man sich schon einmal gefallen, und mehr geben sie Einem beim Gerichte nicht für – na, für eine Ohrfeige, oder ein paar Schrammen im Gesichte. Und die sollen Sie haben, Fräulein, so gewiß wie ich dastehe,“ wandte sie sich mit erhöhter Stimme an Flora. „Ich will Ihre schneeweiße Haut malen, daß Sie zeitlebens an mich denken. Sie sollen ein Gesichtchen kriegen, so schöngestreift wie ein Tigerthier in der Menagerie.“

Blitzschnell hob sie die Hände, um mit den schmutzigen Nägeln Flora’s Gesicht zu zerkratzen; allein ebenso rasch griff Käthe zu. Mit einem einzigen Rucke packte sie die knochigen Fäuste und stieß das Weib zurück, daß der wuchtige Körper taumelnd eine Bresche in die Menschenmauer schlug. Und nun entstand ein unbeschreiblicher Tumult. Wie ein wüthend gereizter Bienenschwarm stürzte sich die Menge auf das große, kraftvolle Mädchen, das leichenblaß, aber hochaufgerichtet dastand, die Schwestern mit ihrem Leibe deckend. Flora war zu Boden gesunken; sie umklammerte, halbtodt vor Angst, den Kieferstamm und drückte das bedrohte Gesicht an seine Rinde. Das herabfallende weiße Hütchen wurde unter den Füßen der Angreifer zerstampft.

„Hülfe, Hülfe!“ schrie Henriette mit übermenschlicher Anstrengung, während alle Hände nach Käthe griffen; schon hing die schwarze Spitzenpelerine in Fetzen von ihren Schultern. Der Hut wurde ihr vom Kopfe gerissen, und die Flechten fielen gelöst über den Rücken hinab; da kreischte der Junge, der abermals seine Hände auf Henriettens Mund gepreßt hatte, wild auf. „Herr Jesus, was ist denn mit der da?“ schrie er und wühlte sich durch das Gemenge, um zu entfliehen.

Ein Blutstrom quoll über die Lippen der Kranken, die mit versagenden Blicken und tastenden Händen nach einer Stütze griff, aber Alles wich scheu zurück. Blut! … Im Nu zerstob die Menge nach allen Richtungen hin. Im Gebüsche rauschte und knackte es, wie wenn ein Rudel Wild durchbricht, dann war es still, als sei das wilde Heer, das sich eben noch so wüthend geberdet hatte, im Waldboden versunken. Und wenn auch da und dort der Kopf eines Jungen aus dem Gestrüpp lugte, um die Stelle, wo das Geld auf der Erde verstreut lag, nicht aus den Augen zu verlieren, so geschah das vorsichtig und vollkommen lautlos.

Käthe hatte die Schwester in den Armen aufgefangen und ließ sich mit ihr zu Boden gleiten. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Kiefer und bettete den Kopf der Kranken an ihrer Brust. In dieser Lage hörte das Blut allmählich auf zu strömen.

„Hole Hülfe!“ sagte sie, ohne die weinenden Augen von dem todtenähnlichen Gesichte der Kranken wegzuwenden, zu Flora, die in Angst und Ungeduld auf die Gruppe niedersah und ihre krampfhaft verschränkten Hände gegen den Busen drückte.

„Bist Du wahnsinnig?“ fuhr sie mit gedämpfter Stimme auf. „Soll ich der Meute geradewegs in die Hände laufen? Allein rühre ich mich nicht von der Stelle. Wir müssen versuchen, Henriette fortzuschaffen.“

Käthe sagte kein Wort; sie sah, daß sie an diesen grenzenlosen Egoismus vergebens appellirte. Nach verschiedenen vorsichtigen Manipulationen, bei denen Flora behülflich war, stand sie endlich auf den Füßen und trug Henriette wie ein Kind auf dem Arme; der Kopf der noch immer Bewußtlosen ruhte auf ihrer Schulter. Sie glitt förmlich über den Boden und wich dem kleinsten Steine aus, um jede gefahrbringende Erschütterung zu vermeiden. Diese Bemühungen erschwerten ihr die Last bedeutend, aber stehen bleiben und nur einmal tief Athem schöpfen durfte sie nicht.

„Ruhe aus, so lange Du Lust hast, wenn wir draußen im freien Felde sind – nur hier nicht, wenn Du nicht willst, daß ich vor Angst sterben soll!“ sagte Flora in gebieterischem Tone. Sie ging dicht an Käthe’s Seite, mit hochgehobenem Kopfe und ihrer gewohnten imposanten Haltung, aber unausgesetzt das verrätherische Gebüsch am Wege scheu beobachtend, um bei dem geringsten verdächtigen Geräusche die Flucht zu ergreifen. – Wo war die „Soldatencourage“, die Henriette heute ironisch betont hatte? Wo die stets so geflissentlich zur Schau getragene Consequenz und Sicherheit, der schroff männliche Geist? Käthe sagte sich in dieser schweren Stunde ernster Erfahrung, daß da, wo bei der Frau das edel weibliche Denken, Empfinden und Streben aufhört, die – Komödie beginnt.


(Fortsetzung folgt.)




Ein alter Sonneberger Kaufherr.[1]


Die von Nürnberg, der Mutter aller deutschen Spielwaarenstädte, zuerst vor anderen Concurrenten emancipirten Sonneberger Kaufleute betrieben anfangs lediglich Meßhandel, und da bekanntlich ehedem jede größere Stadt ihre Messe hatte und die Sonneberger Spielwaaren überall guten Absatz fanden, so zogen sie lustig von einem Meßplatze zum andern. Die Sonneberger Spielwaaren, buntfarbig bemalt, „ergötzlich“ und „g’spaßig“ anzuschauen, galten überall und allezeit als „Nürnberger“ und

  1. Mitgetheilt als Probe aus A. Fleischmann’s „Culturgeschichtlichen Bildern aus dem Meininger Oberlande“, von welchen demnächst das zweite Heft erscheinen wird.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_144.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)